-
Zusammenfassung der Entscheidung Die ghanaische Antragstellerin hat im Sommer 2004 beim Amtsgericht Malmö (SW) beantragt, ihr die elterliche Sorge sowie das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die beiden aus der Ehe mit dem dänischen Antragsgegner hervorgegangenen minderjährigen Kinder zu übertragen. Am 18.05.2005 hatte die Antragstellerin beim Amtsgericht Hamburg (DE) beantragt, ihr die elterliche Sorge für beide Kinder, die sie inzwischen gegen den Willen des Vaters nach Hamburg mitgenommen hatte, zu übertragen. Das Gericht hat das Verfahren gemäß Art. 19 Abs. 2 der EG-Verordnung 2201/2003 „Brüssel II bis“ ausgesetzt, bis das Amtsgericht Malmö über seine Zuständigkeit entschieden habe. Am 15.11.2005 hat das Amtsgericht Malmö seine internationale Zuständigkeit für die Sorgerechtsentscheidung bejaht. Bereits am 19.09.2005 hatte die Mutter beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe (DE) den Antrag gestellt, dem Amtsgericht Malmö zu untersagen, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, solange nicht entschieden worden sei, ob die Kinder nicht auf Grund des Haager Kindesentführungsübereinkommens bei der Mutter in Hamburg verbleiben dürften. Der Generalbundesanwalt hat den Antrag mit Bescheid vom 05.10.2005 zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin.
Das OLG Karlsruhe (DE) weist die Beschwerde als unbegründet zurück. Da der Aufenthalt der Kinder in Schweden von vornherein auf längere Dauer angelegt gewesen sei, sei er bereits mit seinem Beginn als „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne der Art. 8 bzw. 10 der Verordnung 2201/2003 „Brüssel II bis“ anzusehen gewesen. Aus diesem Grunde seien die schwedischen Gerichte für die getroffenen Sorgerechtsentscheidungen international zuständig gewesen. Ferner sei Schweden auf Grund des dortigen gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder Ursprungsland im Sinne des Haager Kindesentführungsübereinkommens. Dem Gericht im Ursprungsland könne aber eine Entscheidung nicht untersagt werden; Art. 16 HKÜ solle nur Entscheidungen im Zufluchtsstaat vor einer Entscheidung über einen Rückführungsantrag gemäß Art. 8 HKÜ verhindern.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. Die Antragstellerin, ghanaische Staatsangehörige, ist die Mutter der beiden Kinder S. D., geboren 2000, und M. D., geboren 1990. Der Vater ist der aus Ghana stammende dänische Staatsangehörige A. D.
Am 26.07.2004 hat die Antragstellerin beim Amtsgericht Malmö/Schweden beantragt, ihr die elterliche Sorge sowie das „Wohnrecht“ für die beiden Kinder zu übertragen. Dem Antrag hat sie Personenstandsbescheinigungen beigefügt, aus denen sich ergibt, dass der Vater seit dem 05.12.2003 und die Kinder seit dem 12.02.2004 in Schweden gemeldet sind. Am 30.08.2004 hat vor dem Amtsgericht Malmö in Anwesenheit der Antragstellerin eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Ausweislich des Protokolls dieser Verhandlung hat die Antragstellerin bzw. die sie vertretende Rechtsanwältin erklärt, dass sie – die Antragstellerin – seit dem 14.08.1992 eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Schweden habe. Sie habe sich seit dem 28.06.2004 in Deutschland aufgehalten, sei aber mehrfach in Schweden gewesen, um die Kinder zu sehen. Sie beabsichtige, sich in Schweden anzusiedeln. Sie halte sich derzeit bei einer Freundin in Malmö auf, rechne aber damit, in der folgenden Woche durch die Fürsorgestelle der Sozialverwaltung eine eigene Wohnung zu erhalten. Der Vater habe acht Kinder, von denen vier, einschließlich der beiden gemeinsamen Kinder, in Schweden wohnten. Er sei zur Ausübung der elterlichen Sorge ungeeignet.
In dieser Verhandlung hat der Vater vorgetragen, dass er sich im Juli 2003 endgültig von der Antragstellerin getrennt habe, als er und die Kinder mit Einverständnis der Mutter nach Schweden gezogen seien. Vorher hätten die Parteien unter anderem in Deutschland zusammen gewohnt. Als er seine Arbeit verloren habe, habe er sich entschieden, nach Schweden zu ziehen. Die Mutter sei nicht mit nach Schweden gezogen, habe aber M. bei zwei Gelegenheiten besucht. Er habe der Mutter gestattet, S. während der Weihnachtstage nach Deutschland zu holen. Als sie sie nicht zurückgebracht habe, habe er S. im April 2004 nach Schweden geholt. M. habe sich ohne sein Einverständnis von März 2004 bis zum 02.07.2004 bei der Mutter aufgehalten. Er habe sie nach Hause nach Schweden holen müssen, weil deutsche Sozialbehörden und die Polizei ihn benachrichtigt hätten, dass M. ohne Aufsicht sei, sie wäre sonst der Mutter weggenommen worden.
Die Mutter hat dazu erklärt, dass M. auf eigenen Wunsch zu ihr nach Deutschland gekommen sei. Sie selbst sei am 01.06.2004 wegen eines Todesfalls nach Ghana geflogen und habe ihren Bruder mit der Beaufsichtigung von M. betraut. Dieser habe ihr mitgeteilt, dass M. bis 3 Uhr nachts auf der Straße sei. Der Vater habe dann M. geholt.
Das Amtsgericht Malmö hat im Anschluss an diese Verhandlung noch am 30.08.2004 entschieden, dass die beiden Kinder bis auf weiteres – „solange nichts anderes festgelegt wird“ – beim Vater wohnen sollen. Der Antragstellerin – der Mutter – ist ein Besuchsrecht eingeräumt worden. In einem weiteren Beschluss vom 19.04.2005 hat das Amtsgericht Malmö den Antrag der Mutter zurückgewiesen, S. bei der Mutter wohnen zu lassen. Im Mai 2005 hat die Mutter die Tochter S. dann ohne Einverständnis des Vaters nach Deutschland verbracht. Der Vater hat daraufhin in Schweden einen Herausgabeantrag nach dem HKÜ gestellt. Mit Beschluss vom 07.06.2005 hat das Amtsgerichts Malmö dem Vater für S. vorläufig die alleinige elterliche Sorge übertragen, da die Mutter bei der Ausübung des Umgangsrechts im Mai 2005 das Kind S. ohne Einvernehmen des Vaters mit nach Deutschland genommen habe und dieser Verstoß gegen die Entscheidung des Gerichts bezüglich der Wohnung des Kindes nicht dem Kindeswohl entspreche.
Zwischenzeitlich hatte die Antragstellerin am 18.05.2005 beim Amtsgericht Hamburg beantragt, ihr die elterliche Sorge für beide Kinder zu übertragen. Das Amtsgericht Hamburg hat das Verfahren im Hinblick auf das früher eingeleitete schwedische Verfahren mit Beschluss vom 19.09.2005 gemäß Art. 19 Abs. 2 EG-VO 2201/2003 (Brüssel IIa) ausgesetzt und „die Sache dem Amtsgericht Malmö zur Entscheidung über die Zuständigkeit vorgelegt“.
Mit Beschluss vom 15.11.2005 hat das Amtsgericht Malmö in dem von der Antragstellerin mit ihrem Antrag vom 26.07.2004 eingeleiteten Verfahren seine Zuständigkeit bejaht und zur Begründung u.a. ausgeführt, dass laut den Angaben der von der Antragstellerin vorgelegten Schriftstücke die Kinder M. und S. ihren Wohnsitz „hier“ (also im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Malmö) gehabt hätten, als die Klage vor dem Amtsgericht Malmö erhoben worden sei. Das Amtsgericht Malmö sei daher für die Behandlung der Sache bezüglich des Sorgerechts für sie zuständig.
Am 19.09.2005 hat die Mutter beim Antragsgegner den Antrag gestellt darauf zu dringen, dass das in Schweden mit der Sache befasste Gericht nicht befugt sei, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht solange zu treffen, bis nicht entschieden worden sei, dass die Kinder auf Grund des Übereinkommens bei der Kindesmutter in H. verbleiben dürften.
Die Antragstellerin hat vor dem Amtsgericht Hamburg erstmals und jetzt auch im vorliegenden Verfahren vorgetragen, sie und der Vater übten auf Grund einer gemeinsamen Sorgerechtserklärung die elterliche Sorge für die Kinder gemeinsam aus. Sie habe etwa seit der Geburt der Tochter S. im Juni 2000 in H. in der Wohnung des Ehemannes und, nachdem dieser aus der Haft entlassen worden sei, mit diesem dort zusammen gelebt. Im März 2004 sei sie nach einer Trennung vom Vater der Kinder in die noch heute von ihr bewohnte Wohnung in H. gezogen. Während ihres Aufenthaltes in Ghana vom 01.06.2004 bis 28.06.2004 habe sie die Kinder dem Vater anvertraut. Der Vater habe die Kinder während dieser Zeit nach Malmö entführt.
Der Antragsgegner hat den Antrag mit Bescheid vom 05.10.2005 zurückgewiesen, da davon ausgegangen werden müsse, dass die Kinder in Schweden ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt haben, so dass Schweden das Ursprungsland im Sinne des HKÜ sei. Dem Gericht im Ursprungsland könne aber eine Entscheidung nicht untersagt werden. Das schwedische Gericht sei nach Art. 8 bzw. 10 Brüssel II a VO international zuständig.
Die Antragstellerin hat daraufhin die Entscheidung des Oberlandesgerichts beantragt. Sie wiederholt im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag. Sie legt nun Meldebestätigungen vor, aus denen sich ergibt, dass sie und S. ab Dezember 2000 und M. ab April 1996 in einer vormaligen Wohnung des Vaters gemeldet waren. Außerdem sind Meldebestätigungen vorgelegt worden, aus denen sich die Anmeldung der Antragstellerin und der Kinder in der J. Straße in H. – der Adresse der Antragstellerin – ab dem 16.03.2004 ergibt.
II. Der Antrag der Beschwerdeführerin ist zulässig; die Voraussetzungen für eine gerichtliche Entscheidung nach § 8 des Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts (Internationales Familienrechtsverfahrensgesetz -IntFamRVG) vom 26. Januar 2005 (BGBl. I 162) liegen vor. Die Beschwerdeführerin kann die mit Art. 27 HKÜ begründete Weigerung des Antraggegners auf diesem Weg zur gerichtlichen Überprüfung stellen. Für die Entscheidung ist nach § 8 Abs. 2 IntFamRVG das Oberlandesgerichts Karlsruhe zuständig, in dessen Bezirk der Antragsgegner als Zentrale Behörde nach § 3 Abs. 1 IntFamRVG seinen Sitz hat.
Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Nach dem mitgeteilten und festgestellten Sachverhalt hat der Antragsgegner zu Recht ein Tätigwerden als Zentrale Behörde für die Antragstellerin abgelehnt, da die Voraussetzungen des HKÜ nicht erfüllt sind.
Die Antragstellerin begehrt eine Entscheidung des Antragsgegners dahingehend, dass dieser Maßnahmen ergreift, um dem Amtsgericht Malmö im dortigen -von der Antragstellerin selbst gegen den Vater der Kinder eingeleiteten -Sorgerechtsverfahren eine Sachentscheidung gem. § 16 HKÜ zu untersagen.
Zu Recht aber hat der Antragsgegner Maßnahmen nach Art. 16 HKÜ abgelehnt. Durch Maßnahmen nach Art. 16 HKÜ soll verhindert werden, dass Gerichte in einem Zufluchtsstaat, d.h. in einem Staat, in den ein Kind aus seinem Ursprungsstaat/Herkunftsstaat widerrechtlich verbracht worden ist, Entscheidungen treffen, bevor eine rechtskräftige Entscheidung über einen Rückführungsantrag gem. Art. 8 HKÜ ergangen bzw. eine angemessene Frist für die Stellung eines entsprechenden Antrags abgelaufen ist (Palandt/Heldrich, BGB, 65. Aufl., Anh. zu Art. 24 EGBGB Rn. 82; BGH FamRZ 2005, 1540, 1544). Dadurch soll die Wiederherstellung des status quo vor der Entführung in den Zufluchtsstaat durch die sofortige Rückgabe des Kindes in den Ursprungsstaat erreicht werden (BGH FamRZ 2000, 1502, 1503).
Vorliegend kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass Schweden Zufluchtsland in diesem Sinne ist.
Selbst wenn man – den Behauptungen der Antragstellerin in vorliegendem Verfahren folgend – davon ausginge, dass beide Kinder im Juni 2004 mit Einverständnis des Vaters ihren gewöhnlichen Aufenthalt in H. hatten und dann (zunächst) gegen den Willen der Mutter im Juni 2004 nach Schweden verbracht worden sind, ist jedenfalls aus der durch die Antragstellerin Ende Juli 2004 erfolgten Einleitung des Verfahrens auf Übertragung der elterlichen Sorge -und nicht etwa auf die Herausgabe der Kinder – beim Amtsgericht Malmö (und nicht bei einem deutschen Amtsgericht) und aus ihren in jenem Verfahren in der mündlichen Verhandlung vom 30.08.2004 gemachten Angaben zu folgern, dass zumindest nunmehr der dauerhafte Aufenthalt der Kinder in Schweden auch in ihrem Sinne gewesen ist, sodass Schweden zumindest ab diesem Zeitpunkt kein Zufluchtstaat im Sinne des HKÜ mehr war. So hat sie selbst in jenem Verfahren die Personenstandsbescheinigungen zur Dokumentation des Aufenthalts der Kinder in Malmö vorgelegt, wie sich aus dem Beschluss des Amtsgerichts Malmö vom 15.11.2005 ergibt. Unbestritten hat sie auch in der Verhandlung auf ihre Aufenthaltserlaubnis für Schweden hingewiesen und vorgetragen, dass sie sich in Schweden ansiedeln wolle und alsbald die Zuweisung einer Wohnung für sich in Malmö erwarte. Dieses Gesamtverhalten lässt nur den Schluss zu, dass sie im Juli/August 2004 grundsätzlich damit einverstanden war, dass sich die Kinder nunmehr auf Dauer weiterhin in Malmö aufhalten. Allein ihr Wunsch, dass die Kinder auf Dauer mit ihr und nicht mit dem Vater in Malmö zusammenleben, hindert die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in Malmö nicht. Auch die jetzt erfolgte Vorlage der H. Meldebescheinigungen der Kinder vom März 2004 steht dem nicht entgegen, denn dies schließt die nach der Anmeldung im Juli/August 2004 erkennbar erfolgte Willensänderung der Mutter über den Aufenthalt der Kinder nicht aus.
Bei dieser Sachlage ist es unerheblich, ob sich beide Kinder – wie die Antragstellerin vorträgt -erst seit Juli 2004 in Malmö aufhielten. Zwar setzt die Begründung eines „gewöhnlichen Aufenthalts“ grundsätzlich einen tatsächlich längeren Aufenthalt -Faustregel sind sechs Monate – voraus (vgl. Palandt/Heldrich, aaO, Anh. zu EGBGB Art. 24 Rn. 67 mwN). Ist der Aufenthalt aber von vornherein auf längere Dauer angelegt, so kann er bereits mit seinem Beginn als „gewöhnlicher Aufenthalt“ angesehen werden (Palandt/Heldrich, aaO, Rn. 11 mwN). Dass er aber -ausgehend vom Vortrag der Mutter im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht Malmö auf Dauer angelegt war, ergeben – wie ausgeführt – die im Verfahren vor dem Amtsgericht Malmö von der Antragstellerin abgegebenen Erklärungen.
Entsprechend der Auffassung des Senats beurteilt auch das Amtsgericht Malmö die spätere Verbringung von S. nach Deutschland im Mai 2005 als widerrechtlich.
Letztlich spricht für die Beurteilung des Senats auch die Tatsache, dass die Mutter erstmals bei Antragstellung beim Amtsgericht Hamburg im Mai 2005, mithin fast ein Jahr nach der angeblichen Verbringung der Kinder nach Schweden, die Widerrechtlichkeit der Verbringung der Kinder nach Schweden behauptet. Bereits im Juli und August 2004 war sie anwaltlich vertreten. Wäre die Antragsgegnerin bereits damals von der Widerrechtlichkeit ausgegangen, so hätte es nahe gelegen, auch unter dem Druck der mündlichen Verhandlung diesen zentralen Punkt ihres Begehrens vorzutragen.