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Zusammenfassung der Entscheidung Die Parteien, die beide die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, hatten ihre letzte gemeinsame Ehewohnung im Bezirk des Amtsgerichts Pankow-Weißensee (DE). Seit August 2003 lebt die Ehefrau mit den beiden gemeinsamen Kindern in England; sie verweigert die Bekanntgabe ihrer dortigen Anschrift. Der Antragsteller hat im Oktober 2003 beim Amtsgericht Pankow-Weißensee (DE) Scheidungsantrag eingereicht. Die Antragsgegnerin hat im August 2004 bei einem britischen Gericht ebenfalls Scheidungsantrag gestellt. Das Amtsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag des Antragstellers zurückgewiesen, weil das britische Gericht für die Ehesache international zuständig sei. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.
Das Kammergericht (DE) gibt der Beschwerde statt und bejaht die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Ehescheidung. Die Frage, ob das deutsche oder das britische Scheidungsverfahren Vorrang habe, beurteile sich nach Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1347/2000 („Brüssel II“). Für die Zwecke dieser Vorschrift gelte nach Art. 11 Abs. 4 lit. a der Verordnung ein Gericht zu dem Zeitpunkt als „angerufen“, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück bei Gericht eingereicht worden sei, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken. Diese Voraussetzungen seien hinsichtlich des Verfahrens vor dem Amtsgericht Pankow-Weißensee erfüllt. Der Scheidungsantrag sei dort vom Antragsteller früher eingereicht worden als der Antrag der Antragsgegnerin beim britischen Gericht. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass der Scheidungsantrag der Antragsgegnerin bisher nicht habe zugestellt werden können. Denn der Antragsteller habe dies nicht zu vertreten, wenn die Antragsgegnerin die Bekanntgabe ihrer Zustellungsadresse verweigere.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
1. Die Beschwerde ist begründet, das Begehren des Antragstellers bietet hinreichende Erfolgsaussichten.
2. Beide Parteien sind Deutsche. Die von ihnen zuletzt bewohnte Ehewohnung liegt im Gerichtsbezirk des Amtsgericht Pankow-Weißensee (Familiengericht). Die Parteien leben seit September 2002 dauernd getrennt. Seit August 2003 lebt die Ehefrau mit den beiden gemeinsamen Kindern in England. Die Bekanntgabe ihrer dortigen Anschrift verweigert die Ehefrau.
3. Entgegen der Auffassung des Gerichts bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen die Zuständigkeit Deutscher Gerichte für die Ehescheidung.
4. Der Antrag des Antragstellers auf Scheidung der Ehe ist bereits im Oktober 2003 bei dem Familiengericht Pankow-Weißensee eingegangen. Er konnte mangels einer Zustellungsanschrift bisher allerdings nicht zugestellt werden.
5. Zwar hat die Ehefrau, wie der Antragsteller mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2004 mitteilt, im August 2004 nunmehr ihrerseits in England (District Judge at Staines Country Court in Middlesex, TW 18 IX) einen eigenen Ehescheidungsantrag gestellt. Da sie zum Zeitpunkt der Antragstellung Ende August 2004 seit einem Jahr ihren gewöhnlichen Aufenthalt in England hatte, kommt gemäß Art. 2 Abs. 1 a, 5. Alt. der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates (sog. Brüssel II-Verordnung) auch eine Zuständigkeit des englischen Gerichts für die Ehescheidung in Betracht.
6. Werden – wie hier – bei Gerichten verschiedener Mitgliedsstaaten identische Anträge (Ehescheidung) gestellt, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.
7. Der Antrag des Antragstellers auf Ehescheidung ist zeitlich vor dem Antrag der Ehefrau in Middlesex bei dem Familiengericht Pankow-Weißensee eingegangen.
8. Dass der Antrag nicht zugestellt werden konnte, gereicht dem Antragsteller nicht zum Nachteil. § 11 Abs. 4 a der Brüssel-II Verordnung bestimmt, dass ein Gericht als „angerufen“ (iSd Art. 11 der VO) zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück bei Gericht eingereicht worden ist, sofern der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
9. Zwar war die ladungsfähige Anschrift der Ehefrau nicht bekannt. der Antragsteller hatte jedoch ihren früheren Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt ... als ihren Vertreter benannt. Eine Zustellung an den Rechtsanwalt ist zu keinem Zeitpunkt versucht worden. Erstmals mit Verfügung vom 30. Januar 2004 hat das Familiengericht bei Rechtsanwalt ... auf telefonische Nachfrage die bestätigende Mitteilung erhalten, dass der Rechtsanwalt die Ehefrau auch im Scheidungsverfahren vertritt. Ihm sind die Anträge zur Stellungnahme im Prozesskostenhilfe-Verfahren zugeleitet worden. Nachdem er hierauf binnen der gesetzten Frist nichts erwidert hatte, hätte ihm die Klage zugestellt werden können und müssen. Bestellt ist ein Prozessbevollmächtigter auch durch (formlose) Mitteilung der Prozessvollmacht (§ 80 ZPO), auch durch den Bevollmächtigten selbst (vgl. Zöller-Stöber, ZPO, 24. Aufl. § 172 Rn. 6 und Rn. 7 unter Hinweis auf BVerfG NJW 1987, 2003). Das Bestehen einer besonderen Vollmacht zur Vertretung im Ehescheidungsverfahren (§ 609 ZPO) hatte Rechtsanwalt ... auf telefonische Nachfrage zuvor ausdrücklich bejaht. Nach Aufhebung des § 613 BGB aF durch das 1. EheRG war das Familiengericht nicht aufgerufen, einen etwaigen Mangel der Vollmacht von Amts wegen zu überprüfen bzw. mit der Zustellung des Ehescheidungsantrags abzuwarten, bis Rechtsanwalt ... eine schriftliche Vollmacht der Ehefrau zu den Akten reicht.
10. Unter Berücksichtigung des Vorstehenden hat der Antragsteller die bisherige Nichtzustellung seines Scheidungsantrags nicht zu vertreten. Das Amtsgericht Pankow-Weißensee war damit bereits im Oktober 2003 angerufen im Sinne des Art. 11 Abs. 4 Brüssel-II VO. Mithin müsste das in England zeitlich später angerufene Gericht das dortige Verfahren der Ehefrau an das Amtsgericht Pankow-Weißensee abgeben (vgl. dazu auch die Nachfragen des englischen Gerichts in 16 UF 144/04 = 18 F 7711/03 Amtsgericht Pankow-Weißensee in Pos. 1 A des übersandten Fragenkatalogs, Bl. 96 der dortigen Akte, ob identische Verfahren bereits in anderen Mitgliedstaaten angängig seien). Die von Rechtsanwalt... mit Schreiben vom 15. November 2004 mitgeteilt Mandatsniederlegung steht der Zuständigkeit des Familiengerichts Pankow-Weißensee nicht entgegen.
11. Mithin ist das Familiengericht aufgerufen, dem Verfahren Fortgang zu geben. Für die Ermittlung der Zustellungsanschrift der Antragsgegnerin kommt es insbesondere in Betracht, das Gericht in England über die Zentrale Behörde um Vermittlung zu bitten.