-
Zusammenfassung der Entscheidung Die beiden minderjährigen Kinder der Antragstellerin sind nach österreichischem Recht seit 19.11.2003 bei einer in Deutschland lebenden Pflegefamilie untergebracht. Die Antragstellerin begehrt den Umgang mit ihren Kindern. Das Amtsgericht Lindau (DE) hat diesen Antrag mit Beschluss vom 27.5.2005 abgelehnt, weil es an der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte fehle. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Mutter.
Das OLG München (DE) hebt den Beschluss des Amtsgerichts auf und bejaht die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die beantragte Entscheidung über das Umgangsrecht der Mutter. Diese Entscheidung betreffe die „Ausübung der elterlichen Verantwortung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 lit. b Verordnung Nr. 2201/2003 „Brüssel II-bis“. Nach der seit dem 1.3.2005 anwendbaren Verordnung seien die Gerichte des Staates international zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe (Art. 8 Abs. 1). Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ sei ebenso auszulegen wie in Art. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens von 1961. Er sei in dem Land begründet, in dem der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person, damit ihr Daseinsmittelpunkt liege. Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts setze nicht notwendig eine längere Aufenthaltsdauer an diesem Ort voraus. Der gewöhnliche Aufenthalt werde vielmehr an einem Ort schon dann begründet, wenn der Aufenthalt auf eine längere Zeitdauer angelegt sei und der neue Aufenthaltsort künftig der Daseinsmittelpunkt sein solle. Das vor österreichischen Gerichten anhängige Verfahren über die Unterbringung der Kinder in einer deutschen Pflegefamilie habe einen anderen Gegenstand als das umgangsrechtliche Verfahren vor deutschen Gerichten; Art. 19 Abs. 2 Verordnung „Brüssel II bis“ finde daher keine Anwendung.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. Die Kinder Lu N und F sind nach österreichischem Recht seit 19.11.2003 im Haus Gie. untergebracht. Die Beteiligte zu 1, Mutter der Kinder N und F, begehrt den Umgang mit ihren Kindern, was ihr in der Vergangenheit versagt wurde. Ihr „Antrag auf einstweiligen Anordnung“, dem Beteiligten zu 2 zu untersagen, Kontakte zu den Kindern „zu verhindern oder zu behindern“, ist mit Beschluss des Amtsgerichts Lindau (Bodensee) vom 03.01.2005 abgewiesen worden. Mit Beschluss des Senats vom 14.02.2005 ist entschieden worden, die Beschwerde der Beteiligten zu 1 als Antrag gemäß § 620 b ZPO auszulegen; zugleich ist die Sache zur weiteren Behandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückgegeben worden. Nunmehr ist der Antrag der Beteiligten zu 1 mit Beschluss des Amtsgerichts Lindau (Bodensee) vom 27.05.2005 zurückgewiesen worden. Das Amtsgericht führt aus, die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte sei nicht gegeben. Hiergegen wendet sich die Beteiligte mit ihrer Beschwerde. Sie begehrt die Aufhebung des Beschlusses, die Bestimmung des zuständigen Gerichts und der Stattgabe ihres Begehrens.
II. Die gemäß § 621 e ZPO zulässige Beschwerde führt zur Aufhebung des Beschlusses vom 27.05.2005 und zur Zurückverweisung an das Amtsgericht, das auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden hat. Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss eine Hauptsacheentscheidung getroffen und nicht nur über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden.
Das Amtsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht gegeben ist.
Die Zuständigkeit beurteilt sich seit 01.03.2005 nach der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung vom 27.11.2003 (abgedruckt bei Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 26. Auflage, als EheVO nF). Art. 1 Abs. 1 lit b bestimmt, dass die Verordnung für Zivilsachen mit dem Gegenstand „Ausübung der elterlichen Verantwortung“ gilt. Dies betrifft das Sorgerecht und das Umgangsrecht (Art. 1 Abs. 2 lit a). Nach Art. 9 Abs. 1 der VO sind die Gerichte des Staates zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Was unter gewöhnlichem Aufenthalt zu verstehen ist, beurteilt sich nach dem inhaltsgleichen Begriff im MSA. Danach gilt, dass unter gewöhnlichem Aufenthalt der Ort oder das Land zu verstehen ist, in dem der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person, damit ihr Daseinsmittelpunkt liegt. Zu fordern ist nicht nur ein Aufenthalt von einer Dauer, die zum Unterschied von dem einfachen oder schlichten Aufenthalt nicht nur gering sein darf, sondern auch das Vorhandensein weiterer Beziehungen, insbesondere in familiärer oder beruflicher Hinsicht, in denen – im Vergleich zu einem sonst in Betracht kommenden Aufenthaltsort – der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person zu sehen ist. Vom Wohnsitz unterscheidet sich der gewöhnliche Aufenthalt dadurch, dass der Wille, den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt oder Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen, nicht erforderlich ist. Es handelt sich um einen „faktischen“ Wohnsitz, der ebenso wie der gewillkürte Wohnsitz Daseinsmittelpunkt sein muss. Das Merkmal der nicht nur geringen Dauer des Aufenthalts bedeutet dabei nicht, dass im Falle eines Wechsels des Aufenthaltsorts ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt immer erst nach Ablauf einer entsprechenden Zeitspanne begründet werden könnte und bis dahin der frühere gewöhnliche Aufenthalt fortbestehen würde. Der gewöhnliche Aufenthalt an einem Ort wird vielmehr grundsätzlich schon dann begründet, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt an diesem Ort auf eine längere Zeitdauer angelegt ist und der neue Aufenthaltsort künftig anstelle des bisherigen Daseinsmittelpunkt sein soll (BGHZ 78, 293 ff. = NJW 1981, 520 ff. = FamRZ 1981, 135 ff.).
Zum Zeitpunkt der Antragstellung (06.12.2004) ergab sich bereits, dass der tatsächliche Aufenthalt der Kinder in Deutschland lange Zeit angedauert hatte (seit 19.11.2003) und noch länger andauern sollte. Damit war der Aufenthalt auf eine längere Zeitdauer angelegt. Daseinsmittelpunkt ist die Einrichtung „Haus Gie.“, was sich bereits daraus ergibt, dass die Unterbringung an diesen Ort erfolgt ist.
Da ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland vorliegt, ist auch die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gegeben.
Das Amtsgericht nimmt auch zu Unrecht an, dass die Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 2 der VO gegeben sind. Nach dieser Bestimmung wäre ein Verfahren bei einem später angegangenen Gericht von Amts wegen auszusetzen, wenn bei Gerichten verschiedener Staaten Verfahren der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht werden. Ein solches anderes Verfahren, das zeitlich früher als das gegenständliche bei österreichischen Gerichten anhängig wäre und das Umgangsrecht der Mutter zum Gegenstand hat, ist hier nicht bekannt. Die Unterbringung der Kinder nach österreichischem Recht in einer deutschen Pflegefamilie ist ein Verfahren mit anderem Verfahrensgegenstand und steht einem Umgangsverfahren vor deutschen Gerichten gemäß vorbezeichneter Bestimmung nicht entgegen.
Da bisher keine Aufklärung des Sachverhalts im Hinblick auf ein etwaiges Umgangsrecht der Mutter erfolgt, ist die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen (Keidel/Kuntze/Sternal, FG, 15. Auflage, § 25 FGG, Rn. 21). Eine Sachentscheidung käme dem Verlust einer Instanz gleich.