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Zusammenfassung der Entscheidung In einem Verfahren vor dem Landgericht Latina (IT) war die Antragsgegnerin zur Zahlung von 4800 Euro verurteilt worden. Im Anschluss wurde der Antragsgegnerin ein "atto di precetto" zugestellt, eine vom Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ausgestellte Zahlungsaufforderung, die im italienischen Prozessrecht als Vollstreckungsvoraussetzung vorgeschrieben ist. In der Folge beantragte die Antragstellerin beim Landgericht Köln (DE), den atto di precetto gemäß Art. 33 ff Brüssel I-VO für vollstreckbar zu erklären. Die Urkunde war mit einem italienischen Gerichtsstempel und einem unleserlichen Vermerk versehen. Gegen den stattgebenden Beschluss des Landgerichts wendete sich die Antragsgegnerin mit der Beschwerde.
Das Oberlandesgericht Köln (DE) lehnt die Vollstreckbarerklärung ab, da der atto di precetto keine Entscheidung im Sinne des Art. 32 Brüssel I-VO sei. Eine Entscheidung müsse Ausfluss staatlicher Gerichtsgewalt sein, also von einem Rechtsprechungsorgan eines Mitgliedstaates erlassen worden sein. Der atto di precetto sei aber vom Rechtsanwalt der Antragstellerin ausgestellt. Nach italienischem Recht sei die Urkunde als Aufforderung zur Erfüllung der Verpflichtung aus dem Titel oder als Vorankündigung im Hinblick auf die Vollstreckung anzusehen. Sie enthalte somit keine gerichtliche Anordnung, sondern sei nur ein Erfordernis des italienischen Vollstreckungsverfahrens. Daran könne auch der Stempel des italienischen Gerichts nichts ändern, da dieser bloß die inneritalienische Durchführung der Zwangsvollstreckung betreffe.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. In einem Zivilverfahren vor dem Landgericht Latina/Italien unterlag die Antragsgegnerin der Antragstellerin. Mit rechtskräftigem Urteil vom 22.11.2005 hat das Berufungsgericht Rom (Aktenzeichen: 5362/05) diese Entscheidung bestätigt und die Antragsgegnerin zur Tragung von Kosten in Höhe von 4.800 EUR nebst „der gesetzlichen Aufwendungen“ verurteilt. Das Berufungsurteil ist am 15.12.2005 veröffentlicht und am 24.01.2006 den italienischen Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerin zugestellt worden.
Mit Datum vom 19.01.2006 haben die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin bei dem Landgericht Velletri einen „atto di precetto“ (Leistungsaufforderung) über insgesamt 28.361,45 EUR vorgelegt, wobei in dieser Summe zusätzlich zu den erwähnten 4.800, EUR noch Rechtsanwaltsgebühren und -aufwendungen in Höhe des Differenzbetrages enthalten sind. Von den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ist mit dieser Vorlage die Erlaubnis zur umgehenden Zwangsvollstreckung ohne Beachtung der Voraussetzungen des Art. 482 Abs. 2 (oder S. 2) der italienischen Zivilprozessordnung (im Folgenden: C.P.C.) beantragt worden. Gemäß einem handschriftlichen – für den Senat unleserlichen – Vermerk auf dieser Urkunde soll der angerufene Richter – so die Übersetzung der Antragstellerin – die Vollstreckung der Urkunde unter Befreiung der „Umstände“ der Art. 482, 2. Absatz und des Art. 147 C.P.C. unter dem 20.01.2006 antragsgemäß genehmigt haben. Diese Urkunde („atto di precetto“/Leistungsaufforderung) wurde der Antragsgegnerin am 26.01.2006 zugestellt.
Unter Bezug auf den „atto di precetto“ vom 20.01.2006 hat die Antragstellerin die Vollstreckbarerklärung der Urkunde beim Landgericht Köln beantragt, das am 07.02.2006 die beantragte Vollstreckungsklausel erteilt hat. Mit der Beschwerde vom 17.02.2006 wendet sich die Antragsgegnerin gegen diese Entscheidung. Dazu macht sie geltend, die Leistungsaufforderung sei allein kein vollstreckbarer Titel, sondern lediglich eine Art Vollstreckbarerklärung nach italienischem Recht. Auch seien die nach italienischem Prozessrecht vorgesehenen Zustellungen nicht eingehalten worden, und zwar sei das Urteil des Berufungsgerichts Rom lediglich dem Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerin und zeitlich nach der Leistungsaufforderung zugestellt worden. Dies habe die Nichtigkeit des Titels zur Folge. Die im Urteil titulierten Kosten habe die Antragsgegnerin durch eine Zahlung am 09.02.200 in Höhe von 5.727,17 EUR bereits ausgeglichen.
II. Das zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Rechtsmittel führt zur Ablehnung der beantragten Vollstreckbarerklärung. Die im italienischen Recht als „atto di precetto“ bezeichnete Urkunde vom 20.01.2006 stellt keine Entscheidung im Sinne des Art. 32 EuGVVO dar.
Die Voraussetzungen für die beantragte Vollstreckbarerklärung beurteilen sich nach den Vorschriften der EuGVVO (Verordnung Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000). Danach sind die Vorlage einer vollstreckbaren Ausfertigung der in Bezug genommenen Entscheidung (Art. 53 Abs. 1 EuGVVO) sowie die Bescheinigung nach Art. 54 EuGVVO erforderlich. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
1. „Entscheidung“ in diesem Sinne wird durch die Legaldefinition des Art. 32 EuGVVO bestimmt. Diese Entscheidung muss Ausfluß staatlicher Gerichtshoheit und also von einem Rechtsprechungsorgan – Richter oder Rechtspfleger – eines Mitgliedstaats erlassen worden sein; mit dieser Entscheidung wird den Bürgern etwas zugesprochen oder aberkannt (Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Aufl., Art. 32 Rn. 8, Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Art. 32 EuGVVO, Rn. 1).
Der von der Antragstellerin vorgelegte „atto di precetto“ erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Er verkörpert keine Entscheidung als Ausfluss staatlicher Gerichtshoheit und ist nicht von einem Rechtsprechungsorgan des italienischen Staates erlassen worden. Bei diesem in der deutschen Fassung des Codice di Procedura Civile (zur deutschen Fassung: Italienische Zivilprozessordnung, C.P.C., Zweisprachige Ausgabe, herausgegeben von der Universität Innsbruck, 2. Aufl.) als „Leistungsaufforderung“ bezeichneten Anschreiben handelt es sich um eine von einem Rechtsanwalt einer Partei an die Gegenpartei gerichtete Aufforderung zur Leistung (vgl. Felix Mayer, Zur Übersetzung von juristischen Formularien: Überlegungen am Beispiel des Sprachenpaares Italienisch-Deutsch, Internet-Adresse: www.tradulex.org/Actes 1998/Mayer.pdf; Mayer greift als Beispiel einen atto di precetto de rilascio = Aufforderung zur Wohnungsräumung auf).
Eine solche Aufforderung verlangt das italienische Zwangsvollstreckungsrecht, bevor der Gläubiger die Zwangsvollstreckung durchführen darf. Dies erschließt sich aus Art. 479 und 480 des C.P.C., die sich mit dem „atto di precetto“ befassen. Diese Vorschriften finden sich im 3. Buch des C.P.C., das das Vollstreckungsverfahren regelt, der erste (Unter-)Titel betrifft den Vollstreckungstitel und die Leistungsaufforderung (titulo del precetto). Art. 480 (Form de Leistungsaufforderung) gibt vor, welchen Inhalt diese Aufforderung haben muss, und verlangt in Absatz 4 mit dem Verweis auf Art. 125 C. P.C., dass sie von der Partei bzw. ihrem Prozessbevollmächtigten unterschrieben wird. Daraus wird deutlich, dass diese Leistungsaufforderung/„atto di precetto“ von einer Prozesspartei herrührt, mithin keine gerichtliche Anordnung darstellt. Dementsprechend wird der „atto di precetto“ im italienischen Recht hinsichtlich seiner Rechtsnatur als Aufforderung zur Erfüllung der Verpflichtung aus dem Titel („intimazione di adempiere l`obbligo“) bzw. als Vorankündigung in Hinblick auf die Vollstreckung („atto prodromico rispetto all´esecuzione“) gesehen (vgl. Satta/Punzi, Diritto Processuale Civile,11. Aufl., Cap. III Nr. 333; Carpi/Taruffo, Commentario breve al C.P.C., 2. Aufl., Art. 480 Nr. 1 <natura del precetto>).
Im Übrigen zeigt sich die Unbeachtlichkeit der Leistungsaufforderung bzw. „atto di precetto“ für die Vollstreckbarerklärung nach der EuGVVO auch daran, dass es sich bei dieser Aufforderung um ein Erfordernis des inneritalienischen Zwangsvollstreckungsverfahrens handelt (vgl. dazu OLG Zweibrücken vom 29. 11.2000, OLGR Koblenz 2002, 349).
Der handschriftliche (für den Senat unleserliche) Zusatz, der dem vorgelegten „atto di precetto“ angefügt und mit einem Gerichtsstempel versehen ist, den die Antragstellerin als Genehmigung der Vollstreckung unter „Befreiung der Umstände gemäß Art. 482 2. Absatz und außerhalb des ex. Art. 147 der Zivilprozessordnung vorgesehenen Zeitraumes“ übersetzt und der nach dieser Übersetzung vom Präsidenten des Landgerichts Velletri unterschrieben ist, ändert nichts an der Rechtsnatur dieser vorgelegten Urkunde. Vielmehr entspricht die hier dokumentierte Verfahrensweise – folgt man der vorgelegten, allerdings wegen der Unleserlichkeit nicht nachvollziehbaren Übersetzung – den Regeln zur Zwangsvollstreckung im 3. Buch des C.P.C. Art. 482 C.P.C. sieht für die Durchführung der Zwangsvollstreckung die Einhaltung bestimmter Fristen vor, d.h. die Vollstreckung darf erst erfolgen, wenn nach Zustellung des „precetto“/Leistungsaufforderung mindestens 10 Tage verstrichen sind. Unter bestimmten Voraussetzungen sind Ausnahmen hiervon möglich, die eine sofortige Vollstreckung zulassen. Darüber entscheidet der „Leiter des für die Vollstreckung zuständigen Amts“. Diese Genehmigung wird durch ein „Dekret erteilt, das an das Ende der Leistungsaufforderung geschrieben...wird“ (vgl. Wortlaut des Art. 482 in Italienische Zivilprozessordnung, aaO). Der handschriftliche Zusatz im Anschluss an den Text des „atto di precetto“ vom 20.01.2006 beinhaltet einen solchen Dispens von den Formalien zur Durchführung der Zwangsvollstreckung. Dieser richterliche Zusatz, der allein die inneritalienische Durchführung der Zwangsvollstreckung betrifft, hat nicht zur Folge, dass es sich deshalb um eine Entscheidung im erwähnten Sinne der EuGVVO handelt.
2. Schließlich stützt die gemäß Art. 54 EuGVVO vorzulegende Bescheinigung nicht die beantragte Vollstreckbarerklärung.
Die vorliegende, vom Präsidenten des Landgerichts Velletri ausgestellte Urkunde bestätigt die Vollstreckbarkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts vom 22.11.2005 und wiederholt den Wortlaut der Entscheidung, soweit dieser für die Vollstreckung von Bedeutung ist. Mithin bezieht sich die Bescheinigung auf das Berufungsurteil vom 22.11.2005, während die Antragstellerin die Vollstreckbarerklärung aus dem „atto di precetto“ vom 20.01.2006 beantragt hat, den sie -fälschlich – als Vollstreckungsbescheid bezeichnet hat.
Die der Bescheinigung nach Art. 54 EuGVVO hinzugefügte Bemerkung zu dem „l`atto di precetto“ vom 20.01.2006 spielt für die Erfordernisse des Art. 54 EuGVVO keine Rolle. Eine solche Erklärung ist in dem zu Art. 54 EuGVVO vorgesehenen Formblatt (s. Anhang V zur EuGVVO) nicht vorgesehen und hat keine Bedeutung für die beantragte grenzüberschreitende Vollstreckbarerklärung.
Der Antrag auf Vollstreckbarerklärung der Urkunde vom 20.01.2006 ist somit unter Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung zurückzuweisen.