-
Zusammenfassung der Entscheidung Die Antragstellerin mit Sitz in Italien erwirkte vor einem italienischen Gericht einen decreto ingiuntivo (Mahnbescheid) gegen die in Deutschland ansässige Antragsgegnerin. Dieser Mahnbescheid wurde vom italienischen Gericht bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses für sofort vollstreckbar erklärt. Eine vorherige Ladung oder Anhörung der Antragsgegnerin erfolgte nicht. Auf Antrag der Antragstellerin wurde vom zuständigen deutschen Landgericht der italienische Mahnbescheid für in Deutschland vollstreckbar erklärt. Dagegen erhob die Antragsgegnerin Beschwerde und rügte die Verletzung rechtlichen Gehörs.
Das OLG Zweibrücken (DE) entscheidet, dass es sich bei dem ohne vorherige Anhörung der Antragsgegnerin erlassenen decreto ingiuntivo nicht um eine Entscheidung im Sinne der Art. 32, 38 Brüssel I-VO handele, die im Inland für vollstreckbar erklärt werden könne. Zwar sei das decreto ingiuntivo dann als gerichtliche Entscheidung im Sinne des Art. 32 Brüssel I-VO anzusehen, wenn es - wie im Normalfall - erst dann für vollstreckbar erklärt werde, wenn eine Widerspruchsfrist ohne Reaktion des Schuldners verstrichen sei. Jedoch seien nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ sog. ex parte-Entscheidungen ohne Möglichkeit der vorherigen Anhörung für den Beklagten nicht nach dem EuGVÜ vollstreckbar. Das EuGVÜ stelle in Art. 25 maßgeblich auf solche gerichtlichen Entscheidungen ab, denen ein kontradiktorisches Verfahren vorangegangen sei oder hätte vorangehen können. Dies gelte auch für die Brüssel I-VO. Das Gericht schließt sich der in der Literatur vertretenen Meinung, dass diese Rechtsprechung des EuGH nicht auf Art. 32, 38 Brüssel I-VO übertragbar sei, nicht an. Die die Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ tragenden Erwägungen, wonach die vorherige Gewährung rechtlichen Gehörs das notwendige Korrelat zum „freien Rechtsverkehr gerichtlicher Entscheidungen" darstelle, gelten auch im Anwendungsbereich der Brüssel I-VO fort.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. Die Verfahrensbeteiligten sind zwei Unternehmen der Schuhindustrie, von denen die Antragstellerin ihren Sitz in Italien und die Antragsgegnerin ihren Sitz in Deutschland hat.
Wegen unbeglichener Forderungen aus der Lieferung von Schuhen, deren sich die Antragstellerin berühmt, erwirkte diese unter dem 3. August 2004 bei dem Tribunale .../Italien gegen die Antragsgegnerin ein decreto ingiuntivo (Mahnbescheid) über 133.658,09 EUR nebst gesetzlicher Zinsen und Verfahrenskosten (italienischer Titel und deutsche Übersetzung in Fotokopie Bl. 29 bis 32 und Bl. 24 bis 26 der Akten). Dieser Mahnbescheid wurde durch das italienische Gericht gemäß Art. 642 Codice di Procedura Civile (c.p.c.) bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses für sofort vollstreckbar („immediatamente esecutivo“) erklärt. Eine vorherige Ladung oder Anhörung der Antragsgegnerin ist in dem italienischen Ausgangsverfahren nicht erfolgt.
Entsprechend dem Begehren der Antragstellerin hat der Vorsitzende der 1. Zivilkammer des für den Sitz der Antragsgegnerin zuständigen Landgerichts Zweibrücken mit Beschluss vom 29. Juni 2005 angeordnet, den vorbezeichneten italienischen Mahnbescheid mit der Vollstreckungsklausel zu versehen. Dagegen richtet sich die am 22. Juli 2005 eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der sie im Wesentlichen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das italienische Gericht rügt.
II. Auf das vorliegende Verfahren betreffend die Vollstreckbarerklärung des gegen die Antragsgegnerin in Italien erlassenen Mahnbescheids finden die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000 (EuGVO) Anwendung, welche am 1. März 2002 in den Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme Dänemarks in Kraft getreten ist.
Das Rechtsmittel ist danach gemäß Art. 43 EuGVO iVm §§ 1 Abs. 1 Nr. 2, 11 Abs. 1 AVAG statthaft und auch im Übrigen verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden. Es ist rechtzeitig innerhalb der Frist des § 11 Abs. 3 AVAG beim Oberlandesgericht eingelegt worden und entspricht der von § 11 Abs. 1 Satz 1 AVAG bestimmten Form.
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das decreto ingiuntivo des Tribunale ... vom 3. August 2004 (Az. 228/04 D.I.) ist im Streitfall, weil es absichtlich ohne vorherige Anhörung der Antragsgegnerin in vorläufig (sofort) vollstreckbarer Form erlassen wurde, keine Entscheidung im Sinne der Art. 32, 38 EuGVO, die im Inland für vollstreckbar erklärt werden kann.
Im Einzelnen gilt dazu Folgendes:
1. Zwar ist das „decreto ingiuntivo“ im Sinne des Vierten Buches der italienischen Zivilprozessordnung (Art. 633 bis 656 c.p.c.) unbeschadet des summarischen Charakters des „procedimento d´ingiunzione“ dann eine gerichtliche Entscheidung im Sinne des Art. 32 EuGVO, wenn es – wie im Normalfall (Art. 641, 647 c.p.c.) – erst dann für vollstreckbar erklärt wird, wenn die Widerspruchsfrist von (in der Regel) 40 Tagen abgelaufen sowie innerhalb der Frist entweder kein Widerspruch eingegangen ist oder derjenige, der den Widerspruch erhoben hat, sich nicht auf das Verfahren eingelassen hat (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 17. November 2004 – 16 W 31/04 –, zitiert nach juris; EuGH IPrax 1996, 262, 263; Kruis, IPrax 2001, 56, 57; Geimer/Schütze, EuZVR A. 1 Art. 32 Rn. 30).
2. Indes können nach der gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (vgl. etwa EuGHE 1980, 1553 „Denilauler“ = IPrax 1981, 95 und EuGH IPrax 1996, 262 „Hengst BV/Campese“) sog. ex parte-Entscheidungen (ohne Möglichkeit der vorherigen Anhörung für den Beklagten) nicht nach dem in Kapitel III der EuGVO vorgesehenen Verfahren anerkannt und vollstreckt werden (vgl. hierzu Geimer/Schütze aaO, Art. 32 Rn. 35; Rauscher/Leible, EuZPR Art. 32 Brüssel I-VO Rn. 12; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Aufl., Art. 32 EuGVO Rn. 22; Musielak/Weth, ZPO, 4. Aufl., Art. 32 EuGVO Rn. 5; MüKo/Gottwald ZPO Aktualisierungsband 2. Aufl., Art. 32 EuGVO Rn. 1 und Art. 25 EuGVÜ Rn. 15; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO 63. Aufl., Art. 32 EuGVVO Rn. 1; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO 26. Aufl., Art. 32 EuGVVO Rn. 4; speziell für das italienische „decreto ingiuntivo“ Schlosser, EUZ/EuGVVO, 2. Aufl., Art. 32 Rn. 6 und Kruis IPrax 2001, 56, 58).
In seiner Entscheidung „Denilauler“ vom 21. Mai 1980 (RS 125/79 = IPrax 1981, 95 f.) hat der EuGH diese dem Schutz des Beklagten/Schuldners dienende Einschränkung (noch unter der Geltung des EuGVÜ) im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Bestimmungen des EuGVÜ (lies nunmehr im Folgenden auch: der EuGVO) brächten insgesamt das Bestreben zum Ausdruck, sicherzustellen, dass im Rahmen der Ziele des Übereinkommens die Verfahren, die zum Erlass gerichtlicher Entscheidungen führen, unter Wahrung des rechtlichen Gehörs durchgeführt werden. Im Hinblick auf die dem Beklagten im Urteilsverfahren eingeräumten Garantien handhabe das Übereinkommen in seinem Titel III die Anerkennung und Vollstreckung sehr großzügig. Daraus folgt für den EuGH, dass das EuGVÜ in Art. 25 (und nun die EuGVO in Art. 32) maßgeblich auf solche gerichtlichen Entscheidungen abstellt, denen im Urteilsstaat ein kontradiktorisches Verfahren vorangegangen ist oder hätte vorangehen können.
Deshalb kommt nach der Rechtsprechung des EuGH das in dem EuGVÜ (jetzt: der EuGVO) geregelte vereinfachte Vollstreckungsverfahren solchen gerichtlichen Entscheidungen nicht zugute, vor deren Erlass – wie im hier zu entscheidenden Fall – im Urteilsstaat die Gegenpartei ihre Rechte mangels Gewährung rechtlichen Gehörs nicht geltend machen konnte (EuGH IPrax 1981, 95, 96 und IPrax 1996, 262, 263). Verlangt wird vielmehr ein prinzipiell und von Beginn an kontradiktorisch angelegtes Verfahren.
Da auch die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. insoweit OLG Karlsruhe FamRZ 2001, 1623) oder die Möglichkeit, nachträglich ein Rechtsmittel einzulegen (Rauscher/Leible aaO, Art. 32 Rn. 12 mwN; Kropholler aaO Art. 32 EuGVO Rn. 23), nicht genügen, war auch dem Hilfsantrag der Antragstellerin auf vorläufige Aussetzung des vorliegenden Verfahrens bis zur etwaigen Bestätigung des decreto ingiuntivo in dem italienischen Ausgangsverfahren nicht zu entsprechen.
Soweit sich die Antragstellerin auf die (Kammer-)Entscheidung des EuGH vom 14. Oktober 2004 (Az. C-39/02 „Maersk“, dort Nrn. 46 ff., zitiert nach juris) beruft, hält der Senat die tatsächlichen Fallumstände mit den vorliegenden nicht für vergleichbar. In jenem einen Beschluss zur Errichtung eines Haftungsbeschränkungsfonds betreffenden Verfahren wurde nämlich der zur Beurteilung stehende Beschluss erst wirksam, nachdem er den betroffenen Gläubigern mitgeteilt worden war und konnten diese darüber hinaus Rechtsmittel gegen den Beschluss einlegen. Im vorliegenden Fall wurde hingegen der italienische Mahnbescheid für sofort vollstreckbar erklärt und ist für die Antragsgegnerin mit Blick auf Art. 649 c.p.c. kein Rechtsmittel mit Suspensiv- oder Devolutiv-Effekt gegen die Vollstreckbarerklärung eröffnet.
3. Allerdings ist die Rechtsprechung des EuGH zur Ausnahme von ex parte-Entscheidungen von der vereinfachten Vollstreckbarerklärung in der Literatur auf Kritik gestoßen und halten einzelne Stimmen sie auf Art. 32, 38 EuGVO nicht für übertragbar (so etwa Micklitz/Rott, EuZW 2002, 15, 16 und Geimer/Schütze aaO, Art. 34 Rn. 107). Dieser Auffassung vermag sich der Senat jedoch nicht anzuschließen. Die EuGVO betont in ihren Erwägungsgründen Nr. 19 die Kontinuität der Verordnung zum EuGVÜ. Die tragenden Erwägungen der Denilauler-Rechtsprechung, wonach die vorherige Gewährung rechtlichen Gehörs das notwendige Korrelat zum „freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen“ darstellt, gelten danach auch im Anwendungsbereich der EuGVO fort. Das gilt um so mehr im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK, aus denen der EuGH den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz herleitet, dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess hat.
Anders als etwa in Art. 34 Nr. 2 EuGVO hinsichtlich der Frage nach der Notwendigkeit der Ordnungsmäßigkeit der Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstückes hat auch der Verordnungsgeber der EuGVO hinsichtlich der hier interessierenden Problematik keine bewusste Korrektur zu der Rechtsprechung des EuGH vorgenommen.
Eine Vorlage an den EuGH zur Beantwortung der Frage nach der Fortgeltung seiner zum EuGVÜ ergangenen Rechtsprechung unter der Geltung der EuGVO ist dem Senat im übrigen nicht möglich, weil vorliegend die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof eröffnet ist und nach Art. 68 Abs. 1 EGV nur dieser zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH befugt wäre (Schlosser aaO, Einleitung Rn. 18).