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Zusammenfassung der Entscheidung Die Klägerin verlangte von der Beklagten, einem italienischen Unternehmen, Zahlung von DM 322.921,81. Sie berief sich auf einen vereinbarten Gerichtsstand in München (DE). Die Beklagte hatte vor Rechtshängigkeit dieser Klage bereits vor dem Tribunale Bergamo (IT) negative Feststellungsklage bezüglich derselben Ansprüche erhoben. Das angerufene deutsche Landgericht setzte das Verfahren daraufhin unter Hinweis auf Art. 21 EuGVÜ aus. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit der Beschwerde. Nach ihrer Ansicht könne mit einer Entscheidung im italienischen Verfahren nicht vor Ablauf eines Zeitraums gerechnet werden, der den Justizgewährungsanspruch aus Art. 6 EMRK verletze.
Das OLG München (DE) entscheidet, dass das Verfahren vor dem deutschen Gericht gleichwohl gem. Art. 21 EuGVÜ auszusetzen sei. Eine Beendigung der Aussetzung habe vielmehr nach Art. 21 EuGVÜ nur zu erfolgen, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts von diesem geklärt sei. Jede andere Regelung würde zu einem Parallelverfahren vor einem anderen Gericht der Gemeinschaft führen. Dies zu vermeiden sei das Ziel der Regelung des Art. 21 EuGVÜ. Daher verbiete es sich, im Geltungsbereich des EuGVÜ darauf abzustellen, ob das ausländische Gericht das Verfahren zügig vorantreibe oder sogar ohne triftigen Grund verzögere. Vielmehr seien innerhalb des Geltungsbereiches des Übereinkommens alle Gerichte als gleichwertig anerkannt. Die Klägerin müsse also, sofern sie ihr Recht aus Art. 6 EMRK bedroht sehe, zunächst den Prozess vor dem italienischen Gericht fördern und Verzögerungen mit allen denkbaren Mitteln bekämpfen, bevor sie schließlich gegebenenfalls Individualbeschwerde einlege.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. Die Klägerin verlangt von der Beklagten, einer italienischen Firma, 322.921,81 DM. Sie stützt ihre Ansprüche auf nicht ordnungsgemäße Erfüllung eines Liefervertrags über Bekleidung und begehrt Schadensersatz bzw. macht Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung geltend. Sie beruft sich auf einen vereinbarten Gerichtsstand in München. Die Beklagte hat vor Rechtshängigkeit dieser Klage bereits vor dem Tribunale di Bergamo negative Feststellungsklage bezüglich derselben Ansprüche erhoben.
Das Landgericht hat mit Beschluß vom 22.Juni 1993 den Rechtsstreit unter Hinweis auf Art. 21 EuGVÜ ausgesetzt. Auf die Beschwerde der Klägerin hat der Senat diese Entscheidung mit Beschluß vom 22.Dezember 1993, Gz. 7 W 2919/93, bestätigt.
Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 26.Januar 1998 die Verfahrensfortsetzung beantragt mit der Begründung, im italienischen Verfahren könne mit einer Entscheidung nicht vor Ablauf eines Zeitraums gerechnet werden, der den Justizgewährungsanspruch verletze. Das Gericht in Bergamo habe in den Verhandlungsterminen von 1993, 1994 und 1995 über die von ihr als der dortigen Beklagten erhobene Zuständigkeitsrüge noch nicht entschieden; für 1996 und 1997 anberaumte Termine hätten jeweils wegen Richterwechsels nicht stattgefunden.
Das Landgericht hat es mit Beschluß vom 18.März 1998 abgelehnt, die Aussetzung aufzuheben. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, ihm stünde nicht die Befugnis zu, darüber zu befinden, ob eine Wiederaufnahme des nach Art. 21 EuGVÜ ausgesetzten Verfahrens wegen überlanger Prozeßdauer in einem anderen Vertragsstaat zulässig sei.
Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Klägerin. Sie hält den angefochtenen Beschluß für falsch, da das Erstgericht trotz der anderweitigen Rechtshängigkeit zur Aufnahme des Verfahrens verpflichtet sei; andernfalls würde es seine eigene Verpflichtung zur Justizgewährleistung gemäß Art.6 EMRK verletzen. Art. 21 EuGVÜ unterstelle zwar die Gleichartigkeit der Justizsysteme in den Übereinkommensstaaten. Die Sperregelung dieser Vorschrift dürfe aber nicht unbesehen und wider besseres Wissen durchgesetzt werden, wenn die Entscheidungspraxis eines Gerichts eines anderen Vertragsstaates ganz offensichtlich im Widerspruch zu diesen Grundsätzen stehe. Das Verfahren in Bergamo, welches die Gegnerin mutwillig und ausschließlich zu dem Zweck erhoben habe, den vorliegenden Rechtsstreit zu blockieren, habe nämlich auch in der Zwischenzeit keinen Fortgang gefunden. Vielmehr habe das italienische Gericht das Verfahren längst „vergessen“. Der vollständige Verfahrensstillstand von mehr als zwei Jahren sei bei einer insgesamt sechsjährigen Verfahrensdauer schlechterdings unerträglich.
II. Die Beschwerde ist zulässig, § 567 ZPO, aber unbegründet. Das Landgericht hat zu Recht die Aussetzung des Verfahrens nach Art. 21 EuGVÜ nicht beendet, da es hierfür keine rechtliche Grundlage gibt.
Nach seinem Wortlaut sieht Art. 21 EuGVÜ eine derartige Maßnahme gerade nicht vor. Eine Beendigung der Aussetzung hat vielmehr nach Art. 21 Abs. 2 EuGVÜ nur zu erfolgen, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts von diesem geklärt ist. Dies ist hier nicht der Fall.
Die von der Klägerin gewünschte Fortsetzung des vorliegenden Prozesses ist auch mit dem Ziel des Art. 21 EuGVÜ nicht vereinbar. Eine Aufnahme des Verfahrens durch das Landgericht würde zu Parallelverfahren führen. Art. 21 EuGVÜ befindet sich aber in einem Abschnitt des Übereinkommens, der im Interesse einer geordneten Rechtspflege in der Gemeinschaft zum Ziel hat, Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Vertragsstaaten und daraus möglicherweise resultierende gegensätzliche Entscheidungen zu verhindern. Diese Regelung soll mithin nach Möglichkeit von vornherein eine Situation ausschließen, wie sie von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ geregelt ist, nämlich die Nichtanerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien in dem Staat ergangen ist, in dem die Anerkennung geltend gemacht ist (EuGH NJW 89, 665; EuZW 95, 309, 311).
Der Senat verkennt nicht, daß Voraussetzungen diskutiert werden, unter denen ausnahmsweise eine Fortsetzung des Verfahrens vor dem später angerufenen Gericht solle erfolgen können, bevor die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist (etwa Zöller-Geimer, ZPO, 20. Aufl., Art. 21 EuGVÜ Rn. 22; Geimer-Schütz, Europ. Zivilprozeßrecht, Art. 21 EuGVÜ Rn. 47; MK-Gottwald, ZPO, Art. 21 EuGVÜ, Rn. 12; Baumbach-Albers, ZPO, 54. Aufl., Art. 21 EuGVÜ Rn. 1; offen gelassen: BGH IPrax 86, 293; Senat IPrax 85, 338).
Dabei verbietet es sich jedoch im Geltungsbereich des EuGVÜ, auf bloße Zumutbarkeitsgesichtspunkte abzustellen (BGH IPrax 86, 293 in Abgrenzung zu BGH NJW 83, 1269). Ebensowenig läßt es der geschilderte Zweck von Art. 21 EuGVÜ zu, die Dauer der Aussetzung an die Bewertung des später angerufenen Gerichts zu knüpfen, ob das ausländische Gericht das Verfahren „zügig vorantreibt“ oder im Gegenteil „ohne triftigen Grund verschleppt“ (so etwa Geimer, Intern. Zivilprozeßrecht, 3. Aufl., Rn. 2725).
Vielmehr ist, was im Grundsatz ja auch die Klägerin herausstreicht, darauf abzustellen, daß das EuGVÜ sämtliche Gerichte der Vertragsstaaten und deren Verfahren als gleichwertig anerkennt ungeachtet etwaiger Unterschiede in der praktischen Ausgestaltung und des Ablaufs der Verfahren im konkreten Einzelfall. Dies schließt es auf jeden Fall aus, hier andere Maßstäbe anzulegen als bei einer doppelten Rechtshängigkeit im Inland. Diese darf aber nur unbeachtet gelassen werden, wenn feststeht, daß das zuerst anhängige Verfahren unter keinen Umständen beendet werden kann (vgl. etwa BGHZ 4, 322: bei Kriegsende vor Breslauer Gericht anhängiges Scheidungsverfahren). Im vorliegenden Fall kann diese Rechtsfrage jedoch dahinstehen, da solche extremen Umstände nicht dargetan sind. Die Klägerin des hiesigen Prozesses ist ja als Beklagte des Rechtsstreits in Bergamo nicht rechtlos gestellt. Schon nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK hat sie gegenüber dem italienischen Gericht Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist gehört zu werden, was auch die tatsächliche Erledigung in der Sache umfaßt (vgl. Int Komm EMRK – Miehsler/Vogler, Art. 6 Rn. 273 mwN). Die Klägerin müßte, sofern sie dieses Recht für gefährdet ansieht, zunächst den Verfahrensablauf vor dem Gericht in Bergamo fördern und Verzögerungen mit allen denkbaren prozeßrechtlichen Mitteln bekämpfen (vgl. Int Komm EMRK-Miehsler/Vogler, Art. 6 Rn. 322), bevor sie schließlich gegebenenfalls eine Individualbeschwerde einlegt.
III. Eine Vorlage gem. Art. 2 Nr. 2 des Protokolls betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof vom 3.Juni 1971 ist nicht veranlaßt, da sich angesichts der tatsächlichen Umstände keine zur Vorentscheidung geeignete Auslegungsfrage stellt.