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Zusammenfassung der Entscheidung Die Antragstellerin erwirkte vor einem italienischen Gericht einen Zahlungsbefehl („decreto ingiuntivo") gegen den in Deutschland wohnhaften Antragsgegner. Der Zahlungsbefehl enthielt den Hinweis, dass innerhalb einer Frist von 40 Tagen dagegen Widerspruch eingelegt werden kann. Der Zahlungsbefehl hätte gemäß Art. 633 Abs. 3 des Codice di Procedura Civile (italienische Zivilprozessordnung) nicht erlassen werden dürfen, da die Zustellung an einen außerhalb Italiens wohnhaften Empfänger erfolgen musste.
Das OLG München (DE) entscheidet, dass dem Zahlungsbefehl die deutsche Vollstreckungsklausel gemäß Art. 31 EuGVÜ zu erteilen sei. Zwar hätte der Zahlungsbefehl nicht erfolgen dürfen, nach italienischem Recht sei er jedoch lediglich anfechtbar (einfach unwirksam) und nicht inexistent (absolut unwirksam). Die bloße Möglichkeit einer Widerspruchseinlegung und auch das Ergreifen eines solchen Rechtsbehelfs hindere die Vollstreckbarkeit nicht.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. Die Antragstellerin erwirkte unter dem 08.11.1997 (Gz. 565/97 DI) beim Bezirksgericht Modena/Italien einen Zahlungsbefehl („decreto ingiuntivo“) über ITL 9.800.000,- nebst gesetzlicher Zinsen seit Fälligkeit und festgesetzter Verfahrenskosten von insgesamt ITL 1.410.800,-. Laut dem bei den Akten befindlichen Zustellungszeugnis des Amtsgerichts München (Az.: 934b E 118/98) wurde der Zahlungsbefehl der Antragsgegnerin am 22.01.1998 übergeben. Der Zahlungsbefehl enthielt den Hinweis, daß innerhalb einer Frist von 40 Tagen Widerspruch erhoben werden kann und daß andernfalls die Zwangsvollstreckung vorgenommen wird. Die Antragsgegnerin hat zunächst keinen Widerspruch eingelegt, so daß der Zahlungsbefehl am 19.03.1998 vom vorgenannten Gericht für vollstreckbar erklärt wurde.
Antragsgemäß ordnete der zuständige Vorsitzende am Landgericht München I mit Beschluß vom 25.05.1998 an, den vorbezeichneten Zahlungsbefehl mit der Vollstreckungsklausel zu versehen. Gegen diesen der Antragsgegnerin am 28.05.1998 zugestellten Beschluß hat sie noch am gleichen Tage Beschwerde eingelegt.
Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, daß der Beschluß nicht hätte erlassen werden dürfen, da der Zahlungsbefehl nichtig sei. Gemäß Art. 633 Abs. 3 des Codice di Procedura Civile (CPC) dürfe ein Zahlungsbefehl nicht ergehen, wenn die vorbeschriebene Zustellung, wie hier, außerhalb Italiens erfolgen müsse. Darüberhinaus habe der italienische Richter die Vorschrift des Art. 644 CPC nicht beachtet, wonach der Zahlungsbefehl als unwirksam zu behandeln sei, wenn die Zustellung nicht innerhalb einer Frist von 60 Tagen ab Erlaß des Befehles erfolge. Der Zahlungsbefehl könne gemäß Art. 27 Ziffer 2 EuGVÜ nicht anerkannt werden, da die Zustellung mangels Nichtbeachtung der Zustellungsfrist nicht ordnungsgemäß gewesen sei. Der unter Verletzung offensichtlicher Verfahrensvorschriften erlassene Zahlungsbefehl verstoße gegen den ordre public. Auch deshalb sei der Befehl gemäß Art. 27 Ziffer 1 EuGVÜ nicht anerkennungsfähig. Sollte das Beschwerdegericht das Vollstreckbarkeitsverfahren im Hinblick auf den nunmehr von der Antragsgegnerin erhobenen Widerspruch gegen den Zahlungsbefehl nicht aussetzen, werde (hilfsweise) beantragt, die Frage der Anerkennungsfähigkeit dem Europäischen Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung vorzulegen.
Die Antragstellerin ist den Rechtsansichten der Antragsgegnerin entgegengetreten.
Der Senat hat mit Beschluß vom 04.08.1998 die Erholung eines Rechtsgutachtens angeordnet. Auf diesen Beschluß (Blatt 88 der Akten) und das Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. D. C.-W. (Blatt 102/125 der Akten) wird verwiesen.
II. Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist gemäß Art. 36, 37 EuGVÜ, §§ 11 ff. AVAG zulässig aber im wesentlichen unbegründet.
Es trifft zu, daß gemäß Art. 633 Abs. 3 CPC ein Zahlungsbefehl (Mahndekret) nicht erlassen werden darf, wenn die nach Art. 643 CPC vorzunehmende Zustellung, wie hier, an den „Gemahnten“ außerhalb Italiens zu erfolgen hätte. Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen hat ein entgegen Art. 633 Abs. 3 CPC erlassener, im Ausland zugestellter und für vollstreckbar erklärter Zahlungsbefehl jedoch nicht zur Folge, daß dieser absolut unwirksam ist. Das italienische Recht unterscheide grundsätzlich zwischen der „nullità assoluta“ (absolute Unwirksamkeit) und der „nullità semplice“ (einfache Unwirksamkeit). Absolute Unwirksamkeit bedeute, daß ein Rechtsgeschäft bzw. eine gerichtliche Maßnahme als rechtlich nicht existent anzusehen sei und keine der beabsichtigten Wirkungen zeitige. Ein unter Verletzung von Art. 633 Abs. 3 CPC ergangener Zahlungsbefehl sei zwar fehlerhaft und anfechtbar, nicht aber rechtlich inexistent, da er von einem dafür grundsätzlich zuständigen staatlichen Organ erlassen worden sei. Dafür spreche auch, daß bereits umstritten sei, ob Art. 633 Abs. 3 CPC bei Erlaß eines Zahlungsbefehls überhaupt von Amts wegen beachtet werden müsse. Wie die Sachverständige weiter ausführt, bestehe in der italienischen Rechtsprechung und Literatur Einigkeit darüber, daß sich der Gemahnte gegen die Mißachtung der genannten Vorschrift mit dem Widerspruch gemäß Art. 645 CPC zur Wehr setzen könne.
Trotz des vorgenannten Verfahrensverstoßes ist der für vollstreckbar erklärte Zahlungsbefehl bis zur richterlichen Aufhebung ein wirksamer Titel und eine Entscheidung, aus der in Italien vollstreckt werden kann. Die bloße Möglichkeit einer Widerspruchseinlegung und auch das Ergreifen eines solchen Rechtsbehelfs hindert die Vollstreckbarkeit nicht, der Titel kann gemäß Art. 31 Abs. 1 EuGVÜ in der Bundesrepublik Deutschland für vollstreckbar erklärt werden. Die Durchführung eines „procedimento ingiuntivo“ entgegen der Bestimmung von Art. 633 Abs. 3 CPC stellt kein Anerkennungshindernis im Sinne von Art. 27 Ziffer 2 EuGVÜ dar. Durch die genannte Bestimmung wird nicht eine Zustellungsfrage geregelt, sondern eine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Durchführung des „procedimento ingiuntivo“.
Gleiches gilt auch für den weiter geltend gemachten Verfahrensverstoß, der darin zu sehen ist, daß die Zustellung des Mahndekrets nicht innerhalb der gemäß Art. 644 CPC vorgeschriebenen Frist von 60 Tagen erfolgte. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin kann die in dieser Vorschrift ebenfalls genannte Frist von 90 Tagen nicht herangezogen werden. Nach den Feststellungen der Sachverständigen betrifft diese Frist die Zustellung an einen Ort außerhalb Italiens, der aber unter italienischer Hoheitsgewalt steht. Nachdem es solche Orte bzw. Gebiete heute nicht mehr gibt, ist die entsprechende Regelung gegenstandslos. Die verspätete Zustellung führt aber nicht zur absoluten Unwirksamkeit des Zahlungsbefehls. Sie muß, wie die Sachverständige darlegt, nach herrschender Lehre und ständiger Rechtsprechung der Corte di Cassazione und der Untergerichte im Wege eines Widerspruchs nach Art. 645 CPC geltend gemacht werden. Auch dieser Verfahrensverstoß hindert deshalb nicht die Vollstreckbarkeit des Leistungsbefehls; er kann gemäß Art. 31 EuGVÜ für vollstreckbar erklärt werden.
Im übrigen kommt die Sachverständige zu dem Ergebnis, daß bei einer Zustellung im Ausland der Gemahnte Widerspruch erheben kann, ohne dabei an Fristen gebunden zu sein, da der Codice di Procedura Civile für einen solchen Fall keine Frist vorsehe. Das Widerspruchsrecht bleibe nur dann nicht erhalten, wenn sich der Gemahnte mit der Zustellung ins Ausland einverstanden erklärt habe. Der Widerspruch sei auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil das örtliche Gericht den Leistungsbefehl gemäß Art. 647 CPC für vollstreckbar erklärt habe. Ein Mahndekret werde nur dann rechtskräftig, wenn die Voraussetzungen für die Vollstreckbarkeit tatsächlich gegeben seien. Werde z.B. zutreffend geltend gemacht, daß der Widerspruch rechtzeitig eingelegt oder das Verfahren nicht ordnungsgemäß betrieben worden sei, werde das Dekret auch durch die Vollstreckbarerklärung nicht rechtskräftig bzw. unanfechtbar, vielmehr könne ein Widerspruchsverfahren noch aufgenommen oder fortgeführt werden. Auch insoweit überzeugen die mit Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen belegten Feststellungen der Sachverständigen.
Eine Verletzung des ordre public ist nicht ersichtlich. Die Regelungen der Art. 38, 39 EuGVÜ und § 29 AVAG bieten ausreichende Sicherheit.
Obwohl die Antragsgegnerin nach ihrer Behauptung mittlerweile Widerspruch gegen den Zahlungsbefehl beim Bezirksgericht in Modena/Italien eingelegt hat, erscheint eine Aussetzung des gegenständlichen Verfahrens gemäß Art. 38 Abs. 1 EuGVÜ nicht angezeigt. Eine solche Entscheidung steht im Ermessen des Beschwerdegerichts. Dabei sind die mutmaßlichen Erfolgsaussichten des Rechtsmittels im Erststaat zu berücksichtigen (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 21. Aufl., Rn. 3 zu Art. 38 EuGVÜ). Zu den Erfolgsaussichten des Widerspruchs hat die Antragsgegnerin nichts vorgetragen. Der Senat kann deshalb nicht beurteilen, ob die Antragsgegnerin im Rahmen des ordentlichen Klageverfahrens, in das das Widerspruchsverfahren bei einem zulässigen Widerspruch übergeht, aussichtsreiche Einwendungen gegen die Klageforderung wird geltend machen können.
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin besteht für den Senat keine Verpflichtung, die von ihm bezeichneten Fragen zur Auslegung des EuGVÜ dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Eine Vorabentscheidung des Gerichtshof gemäß Art. 177 EWG-Vertrag scheidet schon deshalb aus, weil im gegenständlichen Verfahren keine der Vorschriften betroffen ist, die in diesem Artikel aufgeführt sind. In Betracht kommt lediglich eine Vorlage gemäß Protokoll vom 03.06.1991, in Kraft seit 01.09.1975 (BGBl. II, S. 1138), betreffend die Auslegung des EuGVÜ. Gemäß Art. 2 Ziffer 1, Art. 3 Abs. 1 dieses Protokolls sind aber in der Bundesrepublik Deutschland nur die obersten Gerichtshöfe des Bundes unter bestimmten Voraussetzungen zur Vorlage verpflichtet. Gemäß Art. 2 Ziffer 2, 3 könnte der Senat eine Frage zur Auslegung des EuGVÜ dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen, ohne dazu verpflichtet zu sein. Schon im Hinblick auf die in den wesentlichen Fragen klare Rechtslage, wie sie im Gutachten der Sachverständigen dargestellt ist, besteht für eine Vorlage keine Veranlassung. Nachdem aber der Leistungsbefehl unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften erlassen wurde und nicht ausgeschlossen werden kann, daß der Widerspruch der Antragsgegnerin Erfolg hat, erscheint es dem Senat angemessen, die Zwangsvollstreckung gemäß Art. 38 Abs. 3 EuGVÜ von der Leistung einer Sicherheit abhängig zu machen.