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Zusammenfassung der Entscheidung Die in Deutschland ansässige Schuldnerin beauftragte die in Belgien beheimatete Gläubigerin mit der Bearbeitung von Bahnschwellen. Nachdem sich die Parteien über die Vertragsabwicklung gestritten hatten, gestattete das belgische Gericht der Schuldnerin, Schwellen gegen Sicherheitsleistungen von insgesamt 3,3 Mio. Belgischen Francs abzuholen. Die Gläubigerin erwirkte ein Urteil des Handelsgerichts Mons (BE), durch das die Schuldnerin vorläufig vollstreckbar zur Zahlung verurteilt wurde. Aufgrund dieses Urteils wurde der hinterlegte Betrag von 3,3 Mio. Belgischen Francs an die Gläubigerin ausbezahlt. Die Schuldnerin legte gegen das Urteil fristgerecht Berufung ein. Der Vorsitzende des LG Verden (DE) ordnete auf Antrag der Gläubigerin an, das Urteil des Handelsgerichts Mons (BE) in Deutschland für vollstreckbar zu erklären. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Schuldnerin wurde vom OLG Celle (DE) zurückgewiesen. Hiergegen wandte sich die Schuldnerin.
Der Bundesgerichtshof (DE) führt aus, dass das Beschwerdegericht bei einer Entscheidung gemäß Art. 38 Abs. 1 EuGVÜ nur Gründe berücksichtigen dürfe, die der Schuldner vor dem Gericht des Urteilsstaates noch nicht geltend gemacht habe. Dies gelte jedoch nicht ohne weiteres für Art. 38 Abs. 3 EuGVÜ. Art. 38 EuGVÜ solle den Schuldner umfassend vor Nachteilen schützen, die sich bei einer Vollstreckung nur vorläufig vollstreckbarer Entscheidungen unter Umständen ergeben könnten. Insbesondere bei der Prüfung des Erfordernisses einer Sicherheitsleistung gemäß Abs. 3 der Vorschrift sei die Erfolgsaussicht nicht der einzige Maßstab. Vielmehr seien alle Umstände des Falles zu berücksichtigen.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. Die in Deutschland ansässige Schuldnerin beauftragte die in Belgien beheimatete Gläubigerin mit der Bearbeitung von Bahnschwellen. Nachdem sich die Parteien über die Vertragsabwicklung gestritten hatten, gestattete das belgische Gericht der Schuldnerin, Schwellen gegen Sicherheitsleistungen von zusammen 3,3 Mio BF abzuholen. Die Gläubigerin erwirkte ein Urteil des Handelsgerichts M., durch das die Schuldnerin vorläufig vollstreckbar verurteilt wurde, an die Gläubigerin 3.640.107 BF zuzüglich Zinsen sowie 500.000 BF für Verfahrenskosten zu zahlen. Die Schuldnerin hat gegen dieses Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Aufgrund des Urteils wurde der hinterlegte Betrag von 3,3 Mio BF an die Gläubigerin ausbezahlt.
Der Vorsitzende einer Zivilkammer des Landgerichts Verden (Aller) hat angeordnet, das Urteil des Handelsgerichts Mons mit der Vollstreckungsklausel zu versehen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Schuldnerin ist vom Oberlandesgericht zurückgewiesen worden. Hiergegen wendet sich die Schuldnerin mit der Rechtsbeschwerde.
II. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Es ist gemäß §§ 17, 18 AVAG zulässig.
Der Wert der Beschwer übersteigt 60.000 DM (§ 17 Abs. 1 AVAG iVm § 546 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Wenn das Oberlandesgericht den „Gegenstandswert“ auf nur 42.000 DM festgesetzt hat, so hat es dabei offensichtlich übersehen, daß die Gläubigerin aufgrund des landgerichtlichen Beschlusses in Deutschland wegen einer Hauptforderung von fast 4,15 Mio BF vollstrecken kann. Die Sicherheitsleistungen der Schuldnerin in Höhe von 3,3 Mio BF sind danach nicht verrechnet worden. Ob die Gläubigerin diese ihr durch den Beschluß des Landgerichts verliehene Befugnis in vollem Umfange ausnutzen will, ist für den Wert der Beschwer unerheblich.
Zwar wäre das Rechtsmittel auch unzulässig, wenn die Schuldnerin ausschließlich einstweilige Maßnahmen des Oberlandesgerichts im Sinne des Art. 38 EuGVÜ angreifen würde (unten 3). Denn die Weigerung des Beschwerdegerichts, das Verfahren auszusetzen (Art. 38 Abs. 1 EuGVÜ) oder Sicherheitsleistung anzuordnen (Art. 38 Abs. 3 EuGVÜ), stellt keine rechtsbeschwerdefähige Entscheidung gemäß Art. 37 Abs. 2 EuGVÜ dar (EuGH, Urt. v. 4. Oktober 1991 – Rs. 183/90, Van Dalfsen/Van Loon -, Rev.crit.internat. priv 1992, 118, 122 f). Die Schuldnerin wendet im vorliegenden Falle aber zugleich Erfüllung ein (unten 2).
2. Inhaltlich nimmt das Beschwerdegericht zu den Teilleistungen, auf welche die Schuldnerin sich ausdrücklich berufen hat, nicht Stellung. Es hat damit § 13 Abs. 1 AVAG verkannt. Danach kann der Schuldner mit der Beschwerde, die sich gegen die Zulassung der Zwangsvollstreckung aus seiner Entscheidung richtet, auch Einwendungen gegen den Anspruch selbst insoweit geltend machen, als die Gründe, auf denen sie beruhen, erst nach dem Erlaß der Entscheidung entstanden sind. Das kommt hier insoweit in Betracht, als die hinterlegten Beträge von 3,3 Mio BF aufgrund des nun in Deutschland zu vollstreckenden Urteils an die Gläubigerin ausbezahlt worden sind. Diese hat trotz des Hinweises des Senats ihren Antrag für das Vollstreckungsverfahren aufrechterhalten.
Zwar hat nach deutschem Recht eine erzwungene Leistung auf einen erst vorläufig vollstreckbaren Titel noch keine Erfüllungswirkung (BGH, Urt. v. 31. Mai 1965 – VII ZR 159/64, WM 1965, 1022; Palandt/Heinrichs, BGB 53. Aufl. § 362 Rn. 12). Das Handelsgericht M. hat aber, soweit erkennbar, die Rechtsbeziehungen der Parteien auf der Grundlage belgischen Rechts beurteilt (vgl. deutsche Übersetzung des Urteils S. 14 = Bl. 65 GA). Das liegt auch nach deutschem Internationalen Privatrecht nahe, weil die Gläubigerin die charakteristische Vertragsleistung ausgeführt zu haben scheint (vgl. Art. 28 Abs. 2 EGBGB). Vortrag der Parteien hierzu sowie zum Inhalt des belgischen Rechts fehlt. Da die Fragen im bisherigen Verfahren nicht erörtert worden sind, muß der für die Erfüllungswirkung darlegungsbelasteten Schuldnerin Gelegenheit zu näheren Ausführungen gegeben werden. Immerhin hat die Antragsgegnerin geltend gemacht, daß in Höhe von 3,3 Mio BF der Anspruch nicht mehr bestehe (GA 48), und die Antragstellerin darauf hingewiesen, daß sie ihn insoweit nicht mehr geltend mache (GA 83).
Allerdings deckt der an die Gläubigerin ausbezahlte Betrag die ausgeurteilte Forderung nicht vollständig ab. Der Senat ist aber nicht einmal teilweise zu einer eigenen abschließenden Entscheidung in der Lage (§ 19 Abs. 3 AVAG iVm § 575 ZPO). Denn falls die von der Gläubigerin erlangten Leistungen Tilgungswirkung hatten, ist unklar geblieben, auf welche der mehreren titulierten Forderungen sie anzurechnen sind. Auch dies ist möglicherweise nicht gemäß §§ 366, 367 BGB, sondern nach belgischem Recht zu beurteilen.
Das Beschwerdegericht wird diese Fragen aufzuklären haben.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
Das Oberlandesgericht hat eine Anordnung gemäß Art. 38 EuGVÜ entgegen dem Antrag der Schuldnerin nicht getroffen, weil diese nicht angebe, im belgischen Berufungsverfahren neuen Sachvortrag einführen zu wollen. Deshalb müsse die vom Handelsgericht M. ohne Sicherheitsleistung zugelassene Zwangsvollstreckung Vorrang haben.
a) Diese Ausführungen berücksichtigen nicht die Auszahlung von 3,3 Mio BF nach Erlaß des zu vollstreckenden Urteils an die Gläubigerin. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die Schuldnerin sich auf diese Leistung im belgischen Berufungsverfahren stützen darf.
b) Im übrigen hat das Beschwerdegericht das ihm durch Art. 38 Abs. 3 EuGVÜ eingeräumte Ermessen nicht ausgeschöpft. Zwar darf das Beschwerdegericht bei der Entscheidung gemäß Art. 38 Abs. 1 EuGVÜ nur Gründe berücksichtigen, die der Schuldner vor dem Gericht des Urteilsstaates noch nicht geltend machen konnte (EuGH, Urt. v. 4. Oktober 1991 – Rs. 183/90, van Dalfsen/van Loon, aaO 124 f). Das gilt aber nicht ohne weiteres für Abs. 3 dieser Vorschrift. Art. 38 EuGVÜ soll den Schuldner umfassend vor Nachteilen schützen, die sich bei einer Vollstreckung nur vorläufig vollstreckbarer Entscheidungen unter Umständen ergeben können (vgl. Jenard-Bericht zu Art. 38 EuGVÜ, BTDrucks. VI/1973 S. 94 f). Insbesondere bei Prüfung des Erfordernisses einer Sicherheitsleistung gemäß Abs. 3 dieser Vorschrift (und von § 37 Abs. 1 Satz 2 AVAG) ist die Erfolgsaussicht nicht der einzige Maßstab; vielmehr sind alle Umstände des Falles zu berücksichtigen.
In diesem Zusammenhang hat die Schuldnerin vorgetragen: Die Gläubigerin habe in den Jahren 1991 und 1992 nur Verluste erwirtschaftet. Ihre Verbindlichkeiten seien zehnmal so hoch wie ihr Eigenkapital. Sie sei deshalb nicht in der Lage, an sie einmal ausbezahltes Geld wieder zurückzuerstatten.
Ein solcher Vortrag, daß im Falle der Zwangsvollstreckung ein nicht zu ersetzender Nachteil drohe, kann im Rahmen des Art. 38 Abs. 3 EuGVÜ erheblich sein. Die Gläubigerin bestreitet zwar finanzielle Schwierigkeiten pauschal, wird zu den einzelnen tatsächlichen Angaben der Schuldnerin aber näher Stellung nehmen müssen. Entgegen ihrer Auffassung kann nicht etwa der Schuldnerin in der abschließenden Entscheidung eine Sicherheitsleistung auferlegt werden, weil § 22 AVAG nur für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens (Art. 39 Abs. 1 EuGVÜ) gilt und für diesen Zeitraum dem Schuldner eine Abwendungsbefugnis verleiht. In der das Verfahren abschließenden Entscheidung ist hingegen von Art. 38 EuGVÜ auszugehen.