Mit Anordnung vom 13.04.1988 entschied der Präsident (Bâtonnier) der Rechtsanwaltskammer Straßburg, nachdem der Antragsgegner mit Schreiben vom 25.02.1988 gegenüber der Anwaltskammer Stellung genommen hatte, daß der Honoraranspruch des Antragstellers gegenüber dem Antragsgegner auf 6.195,80 FF festgesetzt wird und bestimmte, daß der Antragsgegner an den Antragsteller nach Abzug der Vorschüsse von 1.500,‑ FF noch 4.695,80 FF nebst Zins und Kosten zu zahlen habe.
Die Entscheidung wurde dem Antragsgegner persönlich durch den französischen Gerichtsvollzieher am 01.06.1988 mit der Belehrung zugestellt, er habe die Möglichkeit, durch Widerspruch (contestation) den Präsidenten des Tribunal de Grande Instance von Straßburg innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Entscheidung per Einschreiben/Rückschein (Art. 99 des Dekrets vom 09.06.1972) anzurufen.
Falls er das nicht tue, könne die Entscheidung durch den Präsidenten des Gerichts für vollstreckbar erklärt werden.
Mit seiner Entscheidung vom 04.07.1988 erklärte der Präsident des Landgerichts Straßburg auf Antrag des Antragstellers nach der Feststellung, daß gegen die am 13.04.1988 erlassene Entscheidung kein Widerspruch eingegangen sei, die Entscheidung des Präsidenten der Anwaltskammer wie im Tenor angegeben für vollstreckbar.
Diese Entscheidung wurde dem Antragsgegner nebst Vollstreckungsklausel durch Übergabe an die Ehefrau in der Ehewohnung zugestellt.
Der Antragsteller hat – jeweils mit beglaubigter Übersetzung – die Entscheidung des Präsidenten der Anwaltskammer, vollstreckbare Ausfertigung der Entscheidung des Präsidenten des Landgerichts sowie die dazugehörigen Zustellurkunden vorgelegt nebst einer beglaubigten Übersetzung des Dekrets vom 09.06.1972.
Er beantragt, den „vollstreckbaren Kostenfestsetzungsbeschluß“ vom 04.07.1988, durch welchen der Antragsgegner zur Zahlung einer Honorarforderung von FF 4.695,80 verurteilt wurde mit der deutschen Vollstreckungsklausel zu versehen. Er beabsichtige, den Arbeitslohn des Antragsgegners bei der Firma … pfänden zu lassen.
Dem Antrag war gemäß Art. 31 f. EuGVÜ, §§ 2, 3, 5, 7 AVAG zu entsprechen, wobei er dahin auszulegen ist, daß die Vollstreckungsklausel nur wegen der in der Entscheidung des Präsidenten des Landgerichts Straßburg allein genannten Hauptsumme von 4.695,80 FF begehrt wird.
I. Das Landgericht Karlsruhe ist zuständig, da der Antragsteller die Pfändung von Arbeitslohn im Landgerichtsbezirk Karlsruhe beabsichtigt (Art. 32 Abs. 2 Satz 2 EuGVÜ). Insoweit reicht die hier vorhandene substantiierte Behauptung des Antragstellers, er wolle im Bezirk des Landgerichts Karlsruhe vollstrecken (Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1987 Rn. 3 zu Art. 32 EuGVÜ, Müller bei Bülow-Böckstiegel, Der internationale Rechtsverkehr 1990, Lieferung 1977, Anm. III zu Art. 32 EuGVÜ, 606.237, Schütze bei Geimer-Schütze, Internationale Urteilsanerkennung 1983 Seite 1230, Wolff, Handbuch des internationalen Zivilverfahrensrechts Band III Halbband 2 – 1984 – Kapitel IV Rn. 229).
II. Es liegt eine Entscheidung im Sinne des Art. 25 EuGVÜ vor, die entsprechend den Erfordernissen des Art. 1 EuGVÜ in Zivil- und Handelssachen ergangen ist.
1. In einer Zivilsache wurde entschieden, weil es um Honoraransprüche aus einem privatrechtlichen Anwaltsvertrag geht. Dieser zivilrechtliche Verfahrensgegenstand und nicht die besondere Ausgestaltung des französischen Verfahrens ist insoweit entscheidend. Das zeigt Art. 5 Nr. 4 EuGVÜ, wonach selbst Entscheidungen der Strafgerichte im Strafprozeß dem EuGVÜ unterfallen, wenn und soweit (Art. 42 EuGVÜ) diese Strafgerichte über zivilrechtliche Ansprüche erkennen konnten. Aus dem gleichen Grund hat im Hinblick auf Art. 5 Nr. 2 EuGVÜ der Europäische Gerichtshof mit Recht Unterhalts-Annex-Entscheidungen in Ehescheidungsprozessen als im Verfahren nach Art. 31 f. EuGVÜ mit der Vollstreckungsklausel zu versehende Entscheidungen angesehen (Europäischer Gerichtshof IPRAX 1981 19 – 20). Das Gleiche muß hier für Ansprüche aus dem zivilrechtlichen Anwaltsvertrag gelten. Es ist deshalb nicht entscheidend, auf welchem Rechtsgebiet der Anwalt seinen Mandanten beraten oder vertreten hat (Linke bei Bülow-Böckstiegel aaO Anm. II 2 b Fußnote 20 zu Art. 25 EuGVÜ, 606.190, Martigny, Handbuch aaO Kapitel II Rn. 44 und 45 je mit Nachweisen, vgl. auch Corte d’appello di Trieste, Nachschlagewerk I 31 – B 3), und es hindert die Anwendbarkeit des Verfahrens nach Art. 31 f. EuGVÜ nicht, daß das französische Recht ein „Vorschaltverfahren“ vor dem Präsidenten der Anwaltskammer vorsieht, das nach deutschem Rechtsverständnis unter Umständen dem öffentlichen Recht zugerechnet werden könnte.
2. Ebenso ist eine mit der deutschen Vollstreckungsklausel zu versehende Entscheidung nach Art. 31, 25 EuGVÜ in der Entscheidung des Präsidenten des Landgerichts Straßburg gegeben.
Nicht gefolgt werden kann dem Beschluß des Landgerichts Hamburg vom 31.08.1987 (IPRAX 89, 162), das wegen des Vorliegens einer bloßen Exequatur-Entscheidung des Vorsitzenden des französischen Landgerichts eine Vollstreckbarkeitserklärung versagte, da eine Doppelexequierung abzulehnen sei.
a) Bereits der Wortlaut des Art. 25 EuGVÜ spricht für die Erteilung der Vollstreckungsklausel. „Art. 25 betont mit kaum zu überbietender Deutlichkeit, daß jede Art von gerichtlicher Entscheidung aus einem Vertragsstaat im übrigen Bereich der Gemeinschaft ... zu vollstrecken ist“, wie es im Schlosser-Bericht heißt (Bericht ABl. Nr. C 59/126 Nr. 184). Darauf beruft sich mit Recht Hök (JurBüro 1989, 1333 f. – 1334).
b) Das Problem der Doppelexequierung mit der der ordre public eines Mitgliedstaats durch Exequierung in einem anderen (laxeren) Mitgliedstaat umgangen werden soll, taucht nicht auf, denn hier handelt es sich um eine reine französische Entscheidung (Hök aaO).
c) Aber auch die zum EuGVÜ entwickelten Auslegungsgrundsätze fordern die Erteilung der Vollstreckungsklausel.
Bereits die Präambel zum EuGVÜ besagt, daß das Abkommen beschlossen wurde „die Anerkennung von Entscheidungen zu erleichtern und ein beschleunigtes Verfahren einzuführen, um die Vollstreckung von Entscheidungen sicherzustellen“. Das legt eine vollstreckungsfreundliche Auslegung insoweit nahe (Hök aaO). Zur teleologischen Auslegung des EuGVÜ gehört es, seine Regelungen integrationsfreundlich zu interpretieren und im Zweifel eine nicht die nationalen Unterschiede aufrechterhaltende Lösung zu wählen (so mit Recht Kropholler aaO Rn. 36 der Einleitung mit Nachweisen).
Der Europäische Gerichtshof hat das in seiner Rechtsprechung noch dahin konkretisiert, daß die Auslegung „im Interesse“ möglichst weitgehender Gleichheit und Einheitlichkeit der sich für die Vertragsstaaten und die betreffenden Personen aus dem Übereinkommen ergebenden Rechte und Pflichten zu erfolgen habe (z.B. Urteil vom 22.02.1979 RIW-AWD 1979, 273, Geimer bei Geimer-Schütze aaO Seite 116 mit Nachweisen und Bülow Böckstiegel aaO Anm. 5 zu Art. 1 EuGVÜ, 606.21).
In dem vergleichbaren Fall des Kostenfestsetzungsbeschlusses nach §§ 19 BRAGO werden aber umgekehrt gegenüber dem französischen Mandanten bei deutschem Anwalt ebenso in einem Sonderverfahren die Gebührenansprüche festgesetzt und damit ähnliche Pflichten auferlegt, weil die Gerichte der Gemeinschaft insoweit die Anwendbarkeit des Verfahrens nach Art. 31 f. EuGVÜ bejahen (z.B. Arrondissementsrechtsbank Almedo, Nachschlagewerk I – 27.2 – B 7, Kropholler aaO Rn. 21 zu Art. 27 mit Nachweisen Fußnote 33), wie umgekehrt in anderen Staaten der europäischen Gemeinschaft der vollstreckbare französische Anwaltskostenbeschluß des Präsidenten des französischen Landgerichts als Entscheidung nach Art. 25 EuGVÜ angesehen wird (z.B. Tribunal de premiere instance de Bruxelles, Nachschlagewerk I 25 – 1.1 – B 1, zustimmend insoweit Kropholler aaO Rn. 10 zu Art. 25 EuGVÜ Fußnote 10 letzter Satz).
d) Daß eine gerichtliche Entscheidung vorliegt, ergibt sich außerdem aus dem insoweit maßgebenden französischen Recht als Recht des Erststaates, aus dessen Gerichtshoheit der Titel stammen muß (Geimer bei Geimer-Schütze aaO Seite 982) und damit aus der Regelung des Verfahrens in Art. 97 f. des Dekrets vom 09.06.1972 (vgl. zu diesem Verfahren die ausführliche informative Darstellung von Reinmüller IPRAX 1987, 10 f. und IPRAX 1989, 142 f.).
Insoweit werden in der deutschen juristischen Literatur zwei Meinungen vertreten:
aa) Es wird einerseits gesagt, der französische Gesetzgeber habe sich für eine Aufgabenteilung bei der Titulierung der Anwaltshonorare entschieden. Die gemeinsamen Anordnungen der Präsidenten der Anwaltskammer und des Tribunal de Grande Instance entsprängen der französischen Gerichtshoheit und seien deshalb nach Art. 31 f. EuGVÜ für vollstreckbar zu erklären (so Hök, JurBüro 1989, 1335).
bb) Überwiegend wird jedoch davon ausgegangen, daß in der Entscheidung des Präsidenten des französischen Landgerichts eine selbständige Verurteilung liege bzw. daß zumindest die Entscheidung des Präsidenten der Anwaltskammer völlig in der Entscheidung des Gerichtspräsidenten aufgehe (insbesondere Reinmüller IPRAX 1989, 143, ihm folgend Albers bei Baumbach ZPO 48. Aufl. 1990 Anm. zu Art. 25 EuGVÜ).
Dieser zweiten Meinung ist wegen Aufbau und Durchführung des Verfahrens nach dem Dekret vom 09.06.1972 zu folgen.
Falls die Anwaltsgebühren vor dem Präsidenten der Rechtsanwaltskammer streitig bleiben, kann die Partei oder der Rechtsanwalt nach Art. 99 des Dekrets den Präsidenten des Landgerichts anrufen. Ein Titel kommt dann nur aufgrund eines streitigen Verfahrens vor dem Gerichtspräsidenten oder vor seinem Gericht zustande (Art. 100 des Dekrets), wobei der Charakter dieser Entscheidung als gerichtliche Entscheidung nicht zweifelhaft sein kann.
Das Gleiche muß aber für die Entscheidung des Gerichtspräsidenten nach Art. 102 des Dekrets gelten. Hier ist eine Säumnissituation gegeben. Es liegt deshalb ein Vergleich mit der Regelung beim deutschen Versäumnisurteil und noch mehr beim deutschen Vollstreckungsbefehl nahe, der ausdrücklich in Art. 25 EuGVÜ die Qualität einer vollstreckbar zu erklärenden Entscheidung erhält.
Im deutschen Säumnisverfahren wird sogar das einseitige Vorbringen des Klägers als unstreitig der Entscheidung zugrunde gelegt (§ 331 Abs. 1 Satz 1 ZPO) und der Richter kann tenorieren: „Erkannt nach dem Antrag der Klage“ (§ 313 b Abs. 2 Satz 4 ZPO). Diese Grundlagen des unbestritten als gerichtliche Entscheidung geltenden deutschen Versäumnisurteils sind gar nicht so weit entfernt von dem französischen Verfahren, in dem lediglich die Festsetzungen eines neutralen Dritten – allerdings wohl ohne Korrekturmöglichkeit zur Höhe – zugrundegelegt werden und in dem ähnlich durch Bezugnahme der Titel geschaffen wird. Daß einerseits nach dem Klagantrag erkannt wird und andererseits die Anordnung des Bâtonnier für vollstreckbar erklärt wird, erscheint als Formulierungsfrage. Sachlich wird in beiden Fällen in gleicher Weise vom Richter originär in seiner Entscheidung der Vollstreckungstitel durch Bezugnahme auf Ausführungen eines anderen geschaffen. Noch ähnlicher ist das Verfahren dem vor dem bei Untätigbleiben des Antragsgegners ohne weitere Sachprüfung ergehenden deutschen Vollstreckungsbescheid, den das EuGVÜ als vollstreckbar zu erklärenden Titel (als Vollstreckungsbefehl) ausdrücklich zuläßt. Es ist deshalb nicht einzusehen, weshalb der mit mindestens gleichen Verfahrensgarantien vom Präsidenten des französischen Landgerichts geschaffene Titel nicht zur Vollstreckung zugelassen werden sollte, womit ein in der Praxis bewährtes, abendländisches – in Ansätzen bis zur Zeit von Thomas von Aquin zurückreichendes – Rechtsinstitut (Hök aaO) ohne Grund gemeinschaftsrechtlich ins Abseits gestellt würde.
III. Die nach dem EuGVÜ erforderlichen Nachweise sind erbracht.
1. Der Antragsteller hat eine Ausfertigung der Entscheidung (Art. 46 Nr. 1 EuGVÜ) mit Vollstreckungsklausel (Art. 47 Nr. 1 erste Voraussetzung EuGVÜ) sowie den Zustellnachweis (Art. 47 Nr. 1 zweite Voraussetzung EuGVÜ) vorgelegt.
2. Die Vollstreckungsklausel war nicht wegen Fehlens der Voraussetzungen des Art. 46 Nr. 2 EuGVÜ – Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks – abzulehnen.
a) Wollte man im Verfahren vor dem Präsidenten der Anwaltskammer die Verfahrenseinleitung sehen, dann ergibt sich – nach Art. 48 EuGVÜ hinreichend – aus der Entscheidung des Präsidenten der Anwaltskammer, daß sich der Antragsgegner mit einem Schreiben vom 25.02.1988 auf das Verfahren einließ.
b) Soweit man dagegen im Verfahren vor dem Gerichtspräsidenten die Verfahrenseinleitung sieht, ergibt sich der Zustellnachweis aus der in dessen Entscheidung bestätigten Zustellung (Art. 48 EuGVÜ), worin auch das Negativattest über fehlende Rechtsmitteleinlegung enthalten ist.
IV. Sonstige Umstände, die gemäß Art. 34 Abs. 2, 27, 28 EuGVÜ der Vollstreckung entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich.
Gemäß Art. 34 EuGVÜ, § 5 Abs. 1 Satz 1 AVAG war der Antragsgegner nicht zu hören.