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Zusammenfassung der Entscheidung Die Ehe der Parteien ist im Jahre 2000 in den Niederlanden geschlossen und dort am 16.01.2004 geschieden worden. Das niederländische Gericht hat beide Parteien gemeinsam mit der elterlichen Sorge über die 1998 und 2000 geborenen Kinder „beauftragt“ und das Umgangsrecht des Vaters mit den in der alleinigen Obhut der Mutter verbliebenen Kinder geregelt. Im Dezember 2005 ist die Mutter ohne Zustimmung des Vaters mit den Kindern nach Deutschland verzogen. Am 12.09.2006 hat der in den Niederlanden wohnende Vater beim Amtsgericht Naumburg (DE) den Antrag gestellt, die Rückgabe der Kinder gemäß dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) vom 25.10.1980 anzuordnen. Das Gericht hat diesem Antrag nach persönlicher Anhörung der Kinder stattgegeben. Hiergegen richten sich die Beschwerden des Verfahrenspflegers der Kinder und der Mutter.
Das OLG Naumburg (DE) weist die sofortigen Beschwerden als unbegründet zurück. Das Familiengericht habe die sofortige Rückgabe der Kinder zu Recht nach Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/20003 („Brüssel II-bis“) in Verbindung mit Art. 12 HKÜ angeordnet. Der Vater sei nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung „Brüssel II bis“ berechtigt, den Antrag auf Rückgabe der Kinder zu stellen. Das Verbringen der Kinder nach Deutschland sei widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung „Brüssel II bis“ gewesen, weil hierdurch das Mitsorgerecht des Vaters verletzt worden sei. Der Rückgabeantrag sei auch innerhalb der Jahresfrist nach Art. 12 HKÜ gestellt worden. Die Rückführung könne nach Art. 11 Abs. 4 der Verordnung „Brüssel II bis“ nicht verweigert werden, wenn der Schutz der Kinder nach ihrer Rückkehr gewährleistet sei. Diese Anforderung sei dadurch erfüllt worden, dass die Kinder unter die Aufsicht einer niederländischen Familienvormundschaftsbehörde gestellt worden seien. Schließlich seien die Kinder und ihr Verfahrenspfleger auch – wie von Art. 11 Abs. 2 Verordnung „Brüssel II bis“ gefordert – vom Familiengericht angehört worden.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
I. Das (am 13. Oktober 1998 geborene) Kind T. und das (am 19. Juni 2000 geborene) Kind K. sind aus der nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Beteiligten zu 1 und 2 hervorgegangen. Am 22. August 2000 haben die Beteiligten zu 1 und 2 die Ehe geschlossen. Am 16. Januar 2004 ist die Ehe in den Niederlanden geschieden und die vom Beteiligten zu 1 begehrte Umgangsregelung vom niederländischen Gericht einer späteren Entscheidung vorbehalten worden. Der Gerichtsbeschluss ist am 21. April 2004 in die Zivilstandsregister eingetragen und die Beteiligten sind gemeinsam mit der elterlichen Sorge „beauftragt“ worden (Gerechtshof NL-Herzogenbusch, Entscheidung v. 19.04.06). Anschließend ist das Umgangsrecht des Beteiligten zu 1 mit den – in der alleinigen Obhut der Beteiligten zu 2 verbliebenen – Kindern geregelt worden (Rechtsbank NL-Herzogenbusch, Entscheidung v. 27.02.04). Im Dezember 2005 ist die Beteiligte zu 2 ohne Rücksprache und Zustimmung des Beteiligten zu 1 mit den Kindern nach Deutschland verzogen (Gerechtshof NL-Herzogenbusch, Entscheidung v. 19.04.06).
Am 12. September 2006 hat der in den Niederlanden wohnende Beteiligte zu 1 beim Amtsgericht – Familiengericht – Naumburg den Antrag eingereicht, auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (HKÜ) die Rückgabe der Kinder anzuordnen. Nach persönlicher Anhörung der Kinder hat das Familiengericht die Beteiligte zu 2 verpflichtet, die Kinder innerhalb einer Woche nach Rechtskraft seines Beschlusses zurückzuführen. Die Entscheidung nebst Nebenentscheidungen ist dem Verfahrenspfleger der Kinder am 01. November 2006 und der Beteiligten zu 2 am 02. November 2006 zugestellt worden. Die sofortigen Beschwerden des Verfahrenspflegers und der Beteiligten zu 2 sind am 07. bzw. 15. November 2006 beim Senat eingegangen.
II. 1. Die zulässigen sofortigen Beschwerden des Verfahrenspflegers der Kinder – der als gesetzlicher Interessenvertreter der Kinder handelt (vgl. Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl., § 50 Rn. 9, 15 ff.) – und der Beteiligten zu 2 (§ 40 Abs. 2 S. 2, 3 IntFamRVG) sind im Ergebnis nicht begründet. Denn nach Art. 11 der EG-Verordnung Nr. 2201/2003 vom 27. November 2003 (Brüssel-IIa-VO) in Verbindung mit Art. 12 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (HKÜ) hatte das Familiengericht die sofortige Rückgabe der Kinder anzuordnen:
a) Als die Kinder im Dezember 2005 in die Bundesrepublik Deutschland verbracht wurden, sind die in der Bundesrepublik Deutschland am 01. März 2005 in Kraft getretene Brüssel-IIa-VO und das am 01. Dezember 1990 in Kraft getretene HKÜ auch in den Niederlanden in Kraft gewesen. Die Brüssel-IIa-VO und das HKÜ gelten auch für die betroffenen Kinder. Denn das (am 13. Oktober 1998 geborene) Kind T. und das (am 19. Juni 2000 geborene) Kind K. haben unmittelbar vor der Verletzung des Sorgerechtes des Beteiligten zu 1 oder seines Rechts zum persönlichen Umgang ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden gehabt und sie haben auch zurzeit noch nicht das sechzehnte Lebensjahr vollendet (Art. 4 S. 2 HKÜ).
b) Der mitsorgeberechtigte Beteiligte zu 1 hat beim zuständigen Amtsgericht – Familiengericht – Naumburg (§ 12 Abs. 1 IntFamRVG) eine Entscheidung auf der Grundlage des HKÜ beantragt, um eine Rückgabe der Kinder zu erwirken (Art. 11 Abs. 1 Brüssel-IIa-VO).
c) Das Verbringen der Kinder in die Bundesrepublik Deutschland gilt als widerrechtlich, da dadurch das Mitsorgerecht verletzt wurde, das dem in den Niederlanden wohnenden Beteiligten zu 1 nach dem dortigen Recht zusteht und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen nicht stattgefunden hätte (Art. 2 Nr. 11 S. 1 Brüssel-IIa-VO iVm Art. 3 HKÜ):
aa) Dem betroffenen Elternteil braucht nur das Recht zuzustehen, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen (Art. 5 lit. a HKÜ). Schon bei einer Verletzung eines solchen „Mitspracherechtes“ ist ein widerrechtliches Verbringen des Kindes (Art. 3 Abs. 1a HKÜ) anzunehmen (BVerfG, FamRZ 1997, 1269 f.). Der Beteiligte zu 1 ist mit dem Gerichtsbeschluss vom 21. April 2004 gemeinsam mit der Beteiligten zu 2 mit der elterlichen Sorge „beauftragt“ worden (Gerechtshof NL-Herzogenbusch, Entscheidung v. 19.04.06).
bb) Da die Beteiligte zu 2 als Mitträgerin der elterlichen Verantwortung (Art. 2 Nr. 7 Brüssel-IIa-VO) kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des Beteiligten zu 1 als des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthalt der Kinder bestimmen kann, ist auch von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechtes der Beteiligten zu 1 und 2 auszugehen (Art. 2 Nr. 11 S. 2 Brüssel-IIa-VO).
d) Der (am 12. September 2006 eingereichte) Rückgabeantrag ist innerhalb einer Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen der Kinder in die Bundesrepublik Deutschland (Dezember 2005) gestellt worden. Infolgedessen war die Rückgabe der Kinder unabhängig davon anzuordnen, ob sich die Kinder in die neue Umgebung eingelebt haben (Art. 12 HKÜ).
e) Nach dem HKÜ kann ein Gericht zwar von der Rückgabe eines Kindes absehen, wenn die Person, die sich der Rückgabe widersetzt – hier also die Beteiligte zu 2 –, nachweist, dass die Rückgabe mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ) oder wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter oder eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen (Art. 13 Abs. 2 HKÜ). Das älteste Kind ist aber gerade einmal acht Jahre alt, so dass dem Familiengericht ein weiter Ermessensspielraum zustand (vgl. AnwK-BGB/Benicke, Art. 13 HKÜ Rn. 20 ff.). Und bei der gerichtlichen Umgangsregelung ist von den niederländischen Gerichten bereits festgestellt worden, dass die Kinder gern zu ihrem Vater gehen und den Kontakt mit ihm genießen. Sie reagieren begeistert auf ihn und fühlen sich vertraut bei ihm und auch die Sorgen der Beteiligten zu 2, dass der Vater zu bestimmend sei und keinen Blick für die Sicherheit der Kinder habe, haben im Verlaufe der Ermittlungen der niederländischen Gerichte keine Bestätigung gefunden (Rechtsbank NL-Herzogenbusch, erstinstanzliche Entscheidung v. 27.02.04; Gerechtshof NL-Herzogenbusch, zweitinstanzliche Entscheidung v. 17.08.04). Bei der anschließenden Abweisung des Antrages der Beteiligten zu 2 auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge konnten – nach Einholung von zwei Sachverständigengutachten – ebenfalls keine Gefahren für das Wohl der Kinder nachgewiesen werden (Rechtsbank NL-Herzogenbusch, Entscheidung v. 12. November 2004). Da der Beteiligten zu 2 kein dahingehender Nachweis gelang, ist dem Beteiligten zu 1 sogar – mit einer von der Beteiligten zu 2 angefochtenen Entscheidung – das alleinige Fürsorgerecht übertragen worden (Landgericht Herzogenbusch, Entscheidung v. 07.08.06). Ein von der Beteiligten zu 2 angestrengtes Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs der Kinder wurde mangels hinreichenden Tatverdachtes eingestellt (StA Magdeburg, Verfügung v. 30.01.06), und ein Prozesskostenhilfegesuch für ein beabsichtigtes Klageerzwingungsverfahren ist mangels Erfolgsaussicht abgewiesen worden (OLG Naumburg, Beschluss v. 14.08.06 – 1 Ws [Zs] 215/06 OLG Naumburg). Im Übrigen wird das HKÜ durch die Brüssel-IIa-VO dahingehend ergänzt, dass die Rückgabe eines Kindes nach Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ dann nicht verweigert werden darf, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen zum Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr getroffen wurden (Art. 11 Abs. 4 Brüssel-IIa-VO). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Kinder zeitlich vor der – angefochtenen – Übertragung der alleinigen Fürsorge auf den Beteiligten zu 1 von den niederländischen Gerichten unter Aufsicht einer Familienvormundschaftsbehörde gestellt wurden (Rechtsbank NL-Herzogenbusch, erstinstanzliche Entscheidung v. 05.12.05; Gerechtshof NL-Herzogenbusch, zweitinstanzliche Entscheidung v. 19.04.06).
Auch in Zweifelsfällen ist eine Rückgabe von Kindern anzuordnen. Eine darin liegende Beeinträchtigung der Interessen von Kindern ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (AnwK-BGB/Benicke, Art. 13 HKÜ Rn. 3 mwN). Die Brüssel-IIa-VO und das HKÜ wollen nämlich die Voraussetzungen dafür schaffen, dass international zuständige Gerichte sich mit dem Sorge- und Umgangsrecht befassen und ihre Entscheidungen in anderen Vertragsstaaten beachtet werden (vgl. BVerfG, FamRZ 1997, 1269 f.).
f) Schließlich sind die Kinder und ihr Verfahrenspfleger vom Familiengericht angehört worden (Art. 11 Abs. 2 Brüssel-IIa-VO).