A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind zwei Verfahren „zwischen denselben Parteien“ im Sinn des Art. 12 der Verordnung (EG) 2009/4 des Rates vom 18.12.2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl EU 2009 L 7/1, anhängig, wenn in dem einen Verfahren das Kind seinen Anspruch auf Leistung des Unterhalts für die Vergangenheit und des laufenden Unterhalts gegen den Vater geltend macht und der Vater in einem Scheidungsverfahren die Festsetzung seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind und Leistung an die Mutter für die Zeit nach der Scheidung begehrt?
2. Wenn diese Frage bejaht wird:
Wenn in dem einen Verfahren der Unterhaltsberechtigte seinen Anspruch auf laufenden Unterhalt geltend macht und im anderen Verfahren der Unterhaltsverpflichtete seine Verpflichtung zur Leistung laufenden Unterhalts ab einem späteren Zeitpunkt begehrt, werden dann ab dem späteren Zeitpunkt die Verfahren wegen „desselben Anspruchs“ im Sinn des Art. 12 der Verordnung geführt?
B. Das Verfahren über das Rechtsmittel des Kindes wird, soweit darüber noch nicht entschieden wurde, bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Sachverhalt:
Die Minderjährige ist die eheliche Tochter von M***** N***** und M***** N*****. Eltern und Kind sind tschechische Staatsbürger. Die Mutter wohnt mit der Tochter in St. Pölten, wo das Kind auch die Schule besucht. Der Vater lebt in L*****, Oberösterreich, wo er berufstätig ist. Die Mutter stimmte am 13. Dezember 2013 vor dem Magistrat der Stadt St. Pölten schriftlich zu, dass der Jugendwohlfahrtsträger, das Land Niederösterreich, Vertreter des Kindes für die Festsetzung und Durchsetzung der Unterhaltsansprüche des Kindes ist.
Am 30. August 2011 brachte der Vater in Ungarn beim Stadtgericht Györ (Györi Városi Bíróság) zur Zahl P. 22.196/2011 die Klage auf Ehescheidung ein, in der er neben der Scheidung auch begehrt,
– seine Tochter bei der Mutter unterzubringen;
– diese zu verpflichten, für den Unterhalt, die Erziehung und Pflege des Kindes zu sorgen;
– ihn zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 70 EUR für seine Tochter ab Rechtskraft des Scheidungsurteils „an die Mutter für den Unterhalt des unterhaltsberechtigten minderjährigen Kindes“ zu verpflichten. Er behauptete, seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter hätten zwar in Österreich ihren Hauptwohnsitz, hielten sich aber tatsächlich seit Februar 2011 in einem ungarischen Ort auf.
2. Antrag:
Mit dem am 13. Dezember 2011 beim Bezirksgericht St. Pölten eingelangten Schriftsatz beantragte das vom Jugendwohlfahrtsträger vertretene Kind, den Vater zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von 240 EUR ab 1. April 2010 und von 270 EUR ab 1. Oktober 2010 zu verpflichten. Die Eltern lebten seit April 2010 getrennt. Seither komme der Vater seiner Unterhaltspflicht nicht nach.
3. Verfahrensverlauf:
Nachdem sich der Vater zum Unterhaltsfestsetzungsantrag nicht geäußert hatte, gab das Erstgericht diesem Antrag mit Beschluss vom 16. Jänner 2012 statt.
Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Vater erhobenen Rekurs, mit dem die ausländische Rechtshängigkeit geltend gemacht wurde, Folge. Es hob den angefochtenen Beschluss auf, erklärte das vorangegangene Verfahren für nichtig und wies den Antrag auf Unterhaltsfestsetzung zurück. Die Anfrage des Rekursgerichts an die ungarischen Justizstellen sei dahin beantwortet worden, dass die von der Mutter erhobene Einrede der mangelnden inländischen Gerichtsbarkeit vom ungarischen Gericht abgelehnt worden sei und am 24. Mai 2012 eine erste Verhandlung stattgefunden habe, die vertagt worden sei. Es sei auch bestätigt worden, dass es nach ungarischem Recht möglich sei, im Scheidungsverfahren auch über den Unterhalt der gemeinsamen Kinder zu entscheiden. Aus Art. 3 lit. c der VO (EG) Nr. 2009/4 ergebe sich die Annexzuständigkeit des ungarischen Gerichts für das Kindesunterhaltsverfahren, das der Vater vor der Antragstellung des Kindes in Österreich eingeleitet habe. Nach Art. 12 dieser Verordnung wäre daher grundsätzlich das Verfahren vom Erstgericht von Amts wegen auszusetzen gewesen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen ungarischen Gerichts feststehe. Da Letzteres nun der Fall sei, habe sich das später angerufene Gericht für unzuständig zu erklären. Im Zuge des Rekursverfahrens führe dies zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, zur Nichtigerklärung des vorangegangenen Verfahrens und zur Zurückweisung des Antrags.
Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisonsrekurs zu, weil zur Europäischen Unterhaltsverordnung, insbesondere zur Annexzuständigkeit im Verhältnis eines Kindesunterhaltsverfahrens zu einem Scheidungsverfahren der Eltern, höchstgerichtliche Rechtsprechung nicht vorliege.
Das Kind erhob gegen diesen Beschluss Revisionsrekurs, den der Vater nicht beantwortete.
Mit Beschluss vom 6. Juni 2013 gab der Oberste Gerichtshof dem Revisionsrekurs insoweit Folge, als er die Unterhaltsverpflichtung des Vaters im Zeitraum vom 1. April 2010 bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des Stadtgerichts Györ im Verfahren P. 22.196/2011 betrifft. In diesem Umfang wurde die vom Vater in seinem Rekurs erhobene Einrede der Rechtshängigkeit zurückgewiesen, der Beschluss des Gerichts zweiter Instanz aufgehoben und diesem die Entscheidung in der Sache aufgetragen, weil für diesen Zeitraum die Identität des vom Kind im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Unterhaltsanspruchs mit dem Unterhaltsfestsetzungsbegehren des Vaters im ungarischen Verfahren nicht gegeben ist. Die Entscheidung über den Revisionsrekurs, soweit er die Zeit nach dem Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des Stadtgerichts Györ im Verfahren P. 22.196/2011 betrifft, wurde vorbehalten.
4. Vorlagebegründung:
1.1. Seit dem 18. Juni 2011 ist die Verordnung (EG) 2009/4 des Rates vom 18.12.2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (künftig: EuUVO) anwendbar (Art. 76 EuUVO). Österreich und Ungarn sind Mitgliedstaaten, auf die diese Verordnung anwendbar ist. Ihr sachlicher Anwendungsbereich umfasst alle Unterhaltspflichten, die „auf einem Familien , Verwandtschafts oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen“ (Art. 1 Abs. 1 EuUVO), daher auch die Geldunterhaltspflicht des Vaters.
1.2. Gemäß Art. 75 Abs. 1 EuUVO ist die Verordnung auf alle nach dem 18. Juni 2011 eingeleiteten Verfahren anzuwenden.
2.1. Art. 12 EuUVO bestimmt:
„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
(2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“
2.2. Das unterhaltsberechtigte Kind ist nicht Partei im ungarischen Scheidungsverfahren seiner Eltern. Der Begriff „zwischen denselben Parteien“ ist autonom zu bestimmen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum inhaltsgleichen Art. 21 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil und Handelssachen ist eine Identität der Parteien ausnahmsweise auch anzunehmen, wenn die Parteien im Rechtsstreit zwar nicht identisch sind, aber die Interessen der Parteien hinsichtlich des Gegenstands zweier Rechtsstreitigkeiten so weit übereinstimmen, dass eine Entscheidung, die für oder gegen eine Partei ergeht, Rechtskraft gegenüber der anderen entfalten würde (EuGH 19.05.1998, Rs C 351/96, Drouot/CMII, Slg 1998 I 3075 Rn. 19).
2.3. In der Literatur wird vertreten, dass für das Unterhaltsverfahren deshalb Parteienidentität auch anzunehmen sei, wenn in dem einen Verfahren das Kind Partei ist und in dem anderen Verfahren ein Elternteil in Prozessstandschaft (also im eigenem Namen über das Recht des Kindes) für das Kind den Prozess führt, soweit die Entscheidung für und gegen das Kind wirkt (Andrae in Rauscher, Europäisches Zivilprozess und Kollisionsrecht, EuZPR/EuIPR [2010] Art. 12 EG UntVO Rn. 4).
2.4. Die Frage, ob Art. 12 EuUVO anwendbar ist, wenn in dem einen Verfahren das Kind seinen Anspruch auf Leistung von Unterhalt für die Vergangenheit und des laufenden Unterhalts gegen den Vater geltend macht und der Vater in einem Scheidungsverfahren die Festsetzung seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind und Leistung an die Mutter für die Zeit nach der Scheidung begehrt, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht zweifelsfrei gelöst.
3. Für den Fall der Bejahung der Parteienidentität stellt sich die Frage, ob Identität des im österreichischen Verfahren verfolgten Anspruchs auf laufenden Unterhalt mit jenem Unterhaltsanspruch des Kindes, der Gegenstand des ungarischen Scheidungsverfahrens ist, für den Zeitraum ab der Rechtskraft des ungarischen Scheidungsurteils gegeben ist.