Am 14.10.2011 beantragte die Antragsstellerin beim hierfür zuständigen Gericht (§ 252 Abs. 2 ZPO), dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien, den Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls auf Zahlung von EUR 30.586,– an offenem Kaufpreis, welcher nach Verbesserung des Antrages am 25.10.2011 antragsgemäß erlassen wurde. Dieser Europäische Zahlungsbefehl wurde der Antragsgegnerin am 13.12.2011 in Zalaegerszeg, Ungarn zugestellt. Die Antragsgegnerin übergab den Europäischen Zahlungsbefehl ihrem Rechtsanwalt in Ungarn, welcher am 13.01.2012 einen unbegründeten Einspruch erhob, also somit erst nach Ablauf der 30 tägigen Einspruchsfrist des Art. 16 Abs. 2 der Verordnung. Der Einspruch wurde vom Bezirksgericht für Handelssachen Wien mit Beschluss vom 24.01.2012 als verspätet zurückgewiesen. Der Zurückweisungsbeschluss wurde dem ungarischen Rechtsvertreter der Antragsgegnerin am 30.01.2012 zugestellt.
Gegen diese Zurückweisung stellte die Antragsgegnerin am 08.02.2012, nun durch ihre im Kopf genannte Rechtsvertretung in Österreich, unter anderem den Antrag auf Überprüfung gemäß Art. 20 der Verordnung.
Das Bezirksgericht für Handelssachen Wien wies mit Beschluss vom 05.03.2012 unter anderem diesen Antrag ab.
Gegen diesen Beschluss erhob die Antragsgegnerin rechtzeitig das Rechtsmittel des Rekurses an das fertigende Handelsgericht Wien als Rekursgericht.
II. Zum Vorbringen der Parteien:
Die Antragsstellerin begehrte mittels Europäischen Zahlungsbefehl von der Antragsgegnerin die Zahlung von EUR 30.586,– aus einem Kaufvertrag.
Die Antragsgegnerin erhob einen nicht fristgerechten, unbegründeten Einspruch.
III. Der bisherige Verfahrenslauf
Die Antragsstellerin beantragte den Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls, welcher der Antragsgegnerin vom Erstgericht zugestellt wurde. Diese erhob Einspruch, jedoch wies das Erstgericht den Antrag auf den Europäischen Zahlungsbefehl mit Beschluss zurück, da dieser einen Tag nach Ablauf der Frist zur Post gegeben wurde.
Daraufhin stellte die Antragsgegnerin einen Antrag auf Überprüfung in Ausnahmefällen gemäß Art. 20 der Verordnung. Dabei gab sie an, dass die Überprüfung beantragt werden kann, wenn der Einspruch aufgrund außergewöhnlicher Umstände ohne eigenes Verschulden nicht rechtzeitig eingebracht werden konnte. Dabei bezieht sie sich auf den Wortlaut des Art. 20 der Verordnung, welcher in Abs. 1 lit. b vom „eigenen Verschulden“ spricht, und meint, dass das Verschulden des Rechtsanwalts nicht der Naturalpartei, also der Antragsgegnerin, anzurechnen sei. Dieser Auslegung sei im Interesse eines möglichst weitgehenden Rechtsschutzes der Vorzug zu geben, zumal es um die Möglichkeit gehe, überhaupt Gehör im Verfahren zu erlangen.
Die Antragsstellerin erwiderte, dass auf Grund des Umstandes, dass der Rechtsbehelf nach Art. 20 der Verordnung unbefristet geltend gemacht werden könne, eine restriktive Auslegung zu befürworten sei. Daher sei ein irrtümlicher Fehleintrag des Rechtsanwaltes nicht als außergewöhnlicher Umstand zu werten. Das Verschulden des Rechtsanwaltes sei der Antragsgegnerin auf jeden Fall zuzurechnen, weil für den Einspruch gar kein berufsmäßiger Parteienvertreter benötigt werde. Außerdem solle Art. 20 der Verordnung dem Antragsgegner nicht eine zweite Möglichkeit geben, Einspruch zu erheben.
Das Bezirksgericht für Handelssachen Wien begründete den angefochtenen Beschluss unter anderem damit: „Hierzu ist auszuführen, dass der Terminus selbst zu vertretendes Verschulden der EU-Mahnverordnung auf die Sphäre des Antragsgegners abstellt. Der Sphäre des Antragsgegners ist jedoch dessen Rechtsvertreter, im gegenständlichen Fall ein Rechtsanwalt, jedenfalls zuzurechnen. Als Verschulden ist es jedenfalls anzusehen, wenn ein Rechtsvertreter, diesfalls ein Rechtsanwalt, ohne näher ausgeführte Begründung eine Frist falsch einträgt.“
Dagegen erhob die Antragsgegnerin Rekurs an das Handelsgericht Wien.
IV. Vorliegender Rekurs:
Das dem Handelsgericht Wien vorgelegte Rechtsmittel ist fristgerecht und zulässig.
Als Rekursgrund gibt die Antragsgegnerin die unrichtige rechtliche Beurteilung der Rechtssache an. Die Antragsgegnerin führt diesbezüglich aus, dass der in Art. 20 der Verordnung genannte Rechtsbehelf, nämlich der Antrag auf Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls, autonom und nicht nach nationalen Regeln auszulegen sei. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 20 Abs. 1 lit. b) der Verordnung wird nur auf das „eigene Verschulden“ des Antragsgegners abgestellt. Es sollte keine Zurechnung von Rechtsvertretern und dessen Hilfspersonen zum Verschulden der Naturalpartei geben. Diese Auslegung sei auch im Interesse eines möglichst weitgehenden Rechtsschutzes, zumal es um die Möglichkeit geht, überhaupt Gehör im Verfahren zu erlangen.
In ihrer Rekursbeantwortung führt die Antragsstellerin aus, dass für die Überprüfung nach Art. 20 der Verordnung neben dem eigenen Verschulden auch ein außergewöhnlicher Umstand hinzutreten müsse. Eine bloße irrtümliche Eintragung stelle keinen außergewöhnlichen Umstand dar. Außerdem handele es sich beim Fehlverhalten des Rechtsvertreters jedenfalls um ein eigenes Verschulden.
V. Zu den Vorlagefragen:
Die hier maßgebliche Regelung ist Art. 20 der Verordnung (EG) 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens.
Art. 20 Abs. 1 gewährt die Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehl auch nach Ablauf der 30-tägigen Einspruchsfrist (Art. 16), sofern gemäß lit. b der Antragsgegner aufgrund höherer Gewalt oder aufgrund außergewöhnlicher Umstände ohne eigenes Verschulden keinen Einspruch gegen die Forderung einlegen konnte.
Die Verordnung regelt jedoch nicht genauer, was als eigenes Verschulden anzusehen bzw. was als außergewöhnlicher Umstand zu werten ist. Punkt (25) der Präambel besagt lediglich, dass der Antragsgegner in bestimmten Ausnahmefällen berechtigt sein soll, eine Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls zu beantragen, und dass die Überprüfung in Ausnahmefällen nicht bedeuten soll, dass der Antragsgegner eine zweite Möglichkeit gegeben wird, neuerlich Einspruch einzulegen.
In der Literatur, soweit für das Vorlagegericht überblickbar, hat sich weder national noch etwa in Deutschland eine einheitliche Linie entwickelt. Während manche von einer strikten Befolgung des Wortlautes ausgehen (Kodek in Fasching/Konecny, 2. Aufl., V/2 Art. 20 EuMahnVO Rn. 17; Rauscher/Gruber, EuZPR (2010) Art. 20 EG-Mahn VO Rn. 25) und nur ein fehlendes Verschulden der Naturalpartei akzeptieren, gibt es auch Stimmen, die das Fehlverhalten des Rechtsvertreters als eigenes Verschulden ansehen (Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 7. Aufl., Art. 20 EuMVVO Rn. 4; Rauscher/Gruber, EuZPR (2010) Art. 20 EG-MahnVO Rn. 19).
Vergleichbare Fälle bzw. eine innerstaatliche ausgeprägte Rechtsprechung zur Auslegung des gegenständlichen Artikels der Verordnung liegen nicht vor. Zum vergleichbaren nationalen Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer Frist (§§ 146 ff ZPO) hat nach ständiger Rechtssprechung die Partei, soweit es den Rechtsvertreter und dessen Verschulden betrifft, die Handlungen und Versäumnisse ihres Vertreters grundsätzlich gegen sich gelten zu lassen und dessen Verschulden zu vertreten (Rechtssatz des Obersten Gerichtshofes RS0036729). Dies ergibt sich insbesondere aus § 39 ZPO, der bestimmt, dass Fehler eines Bevollmächtigten der Partei gleich zu halten sind, und nicht als solche eines Dritten anzusehen sind. Eine ähnliche Regelung trifft § 85 Abs. 1 deutsche ZPO. 85 Abs. 2 der deutschen ZPO normiert ausdrücklich, dass das Verschulden des Rechtsvertreters dem Verschulden der Partei gleichsteht. Die Rechtssprechung hat jedoch schon vor Einführung dieser Bestimmung 1976 die Zurechnung des Verschuldens an den Vertretenen angenommen (BGHZ 66, 122).
VI. Zur Verpflichtung zur Vorlage und der Aussetzung: Das Rekursgericht kann in diesem Verfahren letzte Instanz sein. Ein weiterer Rechtszug an den Obersten Gerichtshof (OGH) ist bei gänzlicher Bestätigung des Beschlusses nach § 528 Abs. 2 Z 2 ZPO jedenfalls unzulässig.
Insgesamt erscheint die Auslegung des Unionsrechts nicht derart offenkundig zu sein, dass für Zweifel im Sinne der Rechtsprechung CILFIT (Urteil des EuGH vom 06.10.1982, Rs-283/81, Slg. 1982, S. 03415ff) kein Raum bleibt. Die Fragen werden daher dem EuGH mit dem Ersuchen um Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt.