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Zusammenfassung der Entscheidung Die Parteien sind die Eltern von vier Kindern, denen die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde und für die sie gemeinsam sorgeberechtigt waren. Die Antragstellerin verließ Deutschland und zog mit den Kindern nach Österreich, wo diese seither wohnhaft sind. Die Zustimmung zum dauernden Verbleib der Kinder in Österreich hatte der Antragsgegner nicht erteilt. Dieser stellte einen Rückführungsantrag nach den Bestimmungen des HKÜ, dem Folge gegeben wurde. Die Antragstellerin beantragte bei einem österreichischen Gericht das alleinige Sorgerecht hinsichtlich sämtlicher Minderjähriger. Der Antragsgegner erhob Zuständigkeitsrüge, die jedoch zurückgewiesen wurde. Nach erfolglosem ersten Rechtsbehelf legte der Antragsgegner Rechtsbehelf zum Obersten Gerichtshof (AT) ein.
Der Oberste Gerichtshof gibt dem Rechtsbehelf statt. Das zweitinstanzliche Gericht habe Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 "Brüssel II bis" falsch angewendet. Deren sachlicher Anwendungsbereich sei gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. b iVm. Art. 1 Abs. 2 lit. a Brüssel II bis-VO eröffnet. Art. 8 normiere als Grundsatz die allgemeine Zuständigkeit der Gerichte jenes Mitgliedstaats, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Allerdings werde dies durch Abs. 2 eingeschränkt. Anzuwenden sei hier demnach zusätzlich Art. 10, der die Zuständigkeit für Pflegschaftsverfahren in Fällen von Kindesentführung regle. Allerdings läge keine der darin genannten Voraussetzungen vor. Auch aus Art. 12 Abs. 3 ergebe sich nichts anderes. Zwar seien die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 3 lit. a gegeben, diese müssten jedoch kumulativ mit einer Zustimmung aller Parteien des Verfahrens verbunden sein, wie lit. b dieser Regelung anordne. Auch eine Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 1 erfordere die Zustimmung zur Zuständigkeit. Die österreichischen Gerichte seien daher unzuständig.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
Ute Katharina V***** und Andreas V***** sind die Eltern der im Spruch genannten Kinder. Die Obsorge für sie kommt derzeit beiden Eltern gemeinsam zu.
Am 16. 5. 2007 verließ die Mutter die Ehewohnung in Deutschland und zog mit den vier Kindern nach Ferlach (Kärnten), wo diese seither wohnhaft sind und auch die Schule besuchen. Die Zustimmung zum dauernden Verbleib der Kinder in Österreich hat der Vater nicht erteilt.
Am 17. 8. 2007 stellte der Vater einen Rückführungsantrag nach den Bestimmungen des HKÜ.
Am 25. 9. 2007 stellte die Mutter beim Erstgericht den Antrag auf Zuteilung der Obsorge hinsichtlich sämtlicher Minderjähriger. Der Vater hat sich stets gegen die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts für das Obsorgeverfahren ausgesprochen und beantragt, den Obsorgeantrag der Mutter deshalb zurückzuweisen, und nur in eventu, ihm die Obsorge zu übertragen.
Der erkennende Senat hat mit seiner Entscheidung vom 12. 5. 2009, Az. 5 Ob 47/09m (= ZAK 2009/421, 271 = EF-Z 2009/130, 196) die Rückführung der minderjährigen Kinder Christopher, Pascal und Marie V***** in das Staatsgebiet von Deutschland angeordnet. Betreffend den am 31. 5. 1992 geborenen Christian wurde das Verfahren nach Erreichen des 16. Lebensjahrs eingestellt.
Die Ehe der Eltern wurde am 14. 11. 2008 vom Amtsgericht Tettnang geschieden.
Den vier minderjährigen Kindern wurde mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen.
Das Amtsgericht Tettnang hat mit Beschluss vom 31. 10. 2007 die Übernahme des Verfahrens betreffend den Antrag auf Zuteilung des Sorgerechts abgelehnt.
Mit Vergleich des Amtsgerichts Tettnang vom 5. 9. 2007, Az. 2 FF 444/07, haben die Eltern eine Regelung des Trennungsunterhalts und des Kindesunterhalts getroffen.
Parallel zum Verfahren nach dem HKÜ hat das Erstgericht das von der Mutter am 25. 9. 2007 eingeleitete Obsorgeverfahren geführt. Das Erstgericht sprach mit seinem Beschluss vom 5. 5. 2008, GZ 2 P 55/07d-S-25, seine sachliche und örtliche Zuständigkeit aus, womit es nach seiner Entscheidungsbegründung seine internationale Zuständigkeit bejahen wollte.
Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge. Es bestätigte den erstinstanzlichen Beschluss mit der Maßgabe, dass die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts zur Verhandlung und Entscheidung über den von der Mutter gestellten Obsorgeantrag gegeben sei. Das Rekursgericht bejahte die Anwendbarkeit des Art. 10 EuEheVO nF (folgend: Brüssel IIa-VO) für die Prüfung der internationalen Zuständigkeit, ging auch – wie in 5 Ob 17/08y zugrunde gelegt – von einem widerrechtlichen Verbringen der Kinder aus, bejahte einen gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder im Zeitpunkt der Antragstellung in Österreich und sah dies als ausreichend für den Übergang der internationalen Zuständigkeit an das Erstgericht an.
Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs. 1 AußStrG vorliege.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Zurückweisung des Obsorgeantrags der Mutter infolge Fehlens inländischer Gerichtsbarkeit. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Mutter hat von der ihr eingeräumten Gelegenheit, eine Revisionsrekursbeantwortung zu erstatten, Gebrauch gemacht, und darin beantragt, dem Revisionsrekurs des Vaters nicht Folge zu geben.
Der Revisionsrekurs ist prozessual zulässig:
Nach neuerer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, nämlich seit 10 Ob 25/06h (= SZ 2006/146) gilt, dass die in § 66 Abs. 1 Z 1 AußStrG bezeichneten Mängel, insbesondere der Einwand der Nichtigkeit des Verfahrens, auch dann in einem Revisionsrekurs geltend gemacht werden können, wenn sie vom Rekursgericht bereits verneint worden sind. Wegen der ausdrücklichen Anordnung dieser Bestimmung und infolge Fehlens einer § 519 ZPO vergleichbaren Regelung im Außerstreitgesetz gibt es keine Grundlage für die Annahme einer diesbezüglichen Rechtsmittelbeschränkung (vgl RIS-Justiz RS0121265; vgl auch RS0107248 [T3]; RS0007232 [T15]).
Der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit ist seit der Novellierung des § 29 JN durch die WGN 1997 grundsätzlich wie eine unverzichtbare Unzuständigkeit zu behandeln (vgl RIS-Justiz RS0007405 [T3]). Im vorliegenden Fall ist daher die Frage der inländischen Gerichtsbarkeit revisibel.
Der Revisionsrekurs des Vaters ist auch im Lichte des § 62 Abs. 1 AußStrG zulässig und berechtigt, weil das Rekursgericht aufgrund einer unrichtigen Anwendung des Art. 10 Brüssel IIa-VO zu einem unrichtigen Ergebnis gelangte:
Zufolge Art. 1 Abs. 1 lit. b iVm Art. 1 Abs. 2 lit. a Brüssel IIa-VO gilt diese auch für Obsorgeverfahren, dies bis zum vollendeten 18. Lebensjahr der Kinder (vgl Klauser/Kodek JN-ZPO16 Rn. 10 zu Art. 1 EuEheVO). Anzuwenden sind die Bestimmungen der Art. 8 bis 15 der Verordnung.
Art. 8 Brüssel IIa-VO normiert als Grundsatz die allgemeine Zuständigkeit der Gerichte jenes Mitgliedstaats, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Allerdings wird dies durch Abs. 2 dahin eingeschränkt, dass diese Regelung nur vorbehaltlich der Art. 9, 10 und 12 Brüssel IIa-VO Anwendung findet.
Art. 9 Brüssel IIa-VO betrifft den rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen. Dieser ist hier infolge festgestellter widerrechtlicher Verbringung der Kinder nicht relevant.
Anzuwenden ist hier Art. 10 Brüssel IIa-VO, der die Zuständigkeit für Pflegschaftsverfahren in Fällen von Kindesentführung regelt. Nach dieser komplexen Regelung gilt als Grundsatz, dass bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte jenes Mitgliedstaats zuständig bleiben, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und zwar so lange, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat. Letzterer – vom Rekursgericht für gegeben erachteter – Zuständigkeitstatbestand hängt allerdings von mehreren Voraussetzungen ab, die hier allesamt nicht vorliegen:
nach Art. 10 lit. a) Brüssel IIa-VO:
Die Zustimmung sämtlicher sorgeberechtigter Personen, Behörden oder sonstiger Stellen zur Verbringung oder Zurückhaltung des Kindes oder nach Art. 10 lit. b) Brüssel IIa-VO:
Wenn sich das Kind in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen, das Kind sich in seine Umgebung eingelebt hat und i: kein Rückführungsantrag gestellt wurde oder ii: ein Rückführungsantrag zurückgezogen wurde oder iii: im Herkunftsstaat ein Pflegschaftsverfahren gemäß § 11 Abs. 7 Brüssel IIa-VO abgeschlossen wurde oder iv: im Ursprungsland eine Sorgerechtsentscheidung erlassen wurde, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wurde. Ein Einstellungsfall des Art. 11 Abs. 7 (iVm Art. 11 Abs. 6) Brüssel IIa-VO setzt wiederum voraus, dass ein Rückführungsantrag abgelehnt, dies dem Herkunftsstaat mitgeteilt wurde und trotz Aufforderung die Parteien keine das Sorgerecht betreffenden Anträge gestellt haben. Es ist daher zusammenzufassen, dass weder ein Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat an sich noch das Einleben eines Kindes in seiner neuen Umgebung nach einem mindestens einjährigen Aufenthalt einen Übergang der internationalen Zuständigkeit an jenes Land, in das das Kind widerrechtlich verbracht wurde, bewirken. Diese unmittelbar anzuwendende Regelung, die österreichischen Rechtsvorschriften vorgeht und seit 1. 3. 2005 die EuEheVO aF ersetzt, hat keinen unmittelbaren Vorläufer. Die von den Vorinstanzen und der Revisionsrekursbeantwortung zitierten Entscheidungen sind daher sämtlich nicht einschlägig. Wesentliche Neuerung der Brüssel IIa-VO ist nämlich die Ausdehnung des sachlichen Anwendungsbereichs auf isolierte Obsorgeentscheidungen, also solche, die nicht im Zusammenhang mit einem Ehescheidungsverfahren eingeleitet wurden. Soweit sich die Revisionsrekursbeantwortung auf Art. 12 Abs. 3 Brüssel IIa-VO bezieht und die österreichische Staatsangehörigkeit der Minderjährigen ins Treffen führt, sind zwar die Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 3 lit. a Brüssel IIa-VO gegeben, diese müssten jedoch kumulativ mit einer Zustimmung aller Parteien des Verfahrens verbunden sein, wie lit. b dieser Regelung anordnet. Auch eine Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 1 Brüssel IIa-VO erfordert die Zustimmung zur Zuständigkeit. Das betrifft auch die leicht veränderte Variante der Annexzuständigkeit zu Ehesachen. In allen Fällen des Art. 12 Brüssel IIa-VO wird also neben weiteren Voraussetzungen die Zustimmung der Ehegatten oder der Träger der elterlichen Verantwortung gefordert (vgl EinfErlEuEheVO [= JABl 2005/2], abgedruckt in Klauser/Kodek JN-ZPO16 Rn. 3 zu Art. 12 EuEheVO).
Art. 15 Brüssel IIa-VO sieht vor, dass das international zuständige Gericht eine Überweisung vornehmen kann, was für das Erstgericht ebenfalls nicht zutrifft.
Das Erstgericht hätte sich daher nach Art. 17 Brüssel IIa-VO für international unzuständig erklären müssen. In Abänderung der Entscheidung der Vorinstanzen war dieser Ausspruch vorzunehmen. Ein Kostenersatz findet zufolge § 107 Abs. 3 AußStrG nicht statt. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.