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Zusammenfassung der Entscheidung Der Antragsteller beantragte vor einem österreichischen Gericht die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung des Jugendgerichts Venedig (IT), durch die die Rückführung seines Kindes nach Italien angeordnet worden war und zu der das Ursprungsgericht eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel II bis-VO ausgestellt hatte. Die elterliche Sorge stand beiden Eltern zu. Nachdem die Mutter mit dem Kind die gemeinsame Wohnung verlassen hatte, hatte ihr das Jugendgericht Venedig (IT) auf Antrag des Vaters die Ausreise aus Italien untersagt. Dennoch zog die Mutter mit dem Kind nach Österreich. Der Antrag auf Vollstreckbarerklärung wurde in erster Instanz abgewiesen. Dem Rechtsbehelf des Antragstellers wurde stattgegeben. Die Antragsgegnerin legte Rechtsbehelf zum Obersten Gerichtshof (AT) ein und machte geltend, der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt habe sich wesentlich und zu ihren Gunsten verändert.
Der Oberste Gerichtshof weist den Rechtsbehelf nach Vorlage einiger Fragen zur Auslegung mehrerer Bestimmungen der Brüssel II bis-VO ab. Nach dem EuGH (Povse v Alpago, 1. Juli 2010, C-211/10 PPU) beschränke sich die Befugnis der österreichischen Gerichte darauf, die „Modalitäten“ der Rückführung festzulegen. Eine Änderung der Verhältnisse könne die Mutter nur beim Jugendgericht Venedig geltend machen, wobei ausschließlich dieses Gericht einem solchen Antrag aufschiebende Wirkung zuerkennen könne. Damit habe der EuGH der vom Senat (auch) in diesem Zusammenhang erwogenen Analogie zu Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 eine Absage erteilt. Diese hätte es den österreichischen Gerichten ermöglicht, die Vollstreckung bis zur Entscheidung des Jugendgerichts Venedig über Rechtsmittel der Mutter auszusetzen. Die Entscheidung des Jugendgerichts Venedig sei ohne weitere inhaltliche Prüfung zu vollziehen, die Aufgabe des Vollstreckungsgerichts beschränke sich darauf, die konkrete Vorgehensweise bei der Vollstreckung festzulegen.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
S***** P***** wurde am ***** in Italien als Kind von M***** A***** und D***** P***** geboren. Bis Ende Jänner 2008 lebte sie im gemeinsamen Haushalt der nicht miteinander verheirateten Eltern in V***** (Italien); die elterliche Gewalt stand nach Art. 317 bis des italienischen Zivilgesetzbuches beiden Eltern zu. Nachdem die Mutter mit dem Kind die gemeinsame Wohnung verlassen hatte, untersagte ihr das Jugendgericht Venedig mit Beschluss vom 8. Februar 2008 auf Antrag des Vaters die Ausreise aus Italien. Dennoch begab sich die Mutter mit dem Kind nach Österreich.
Der Vater beantragte nach dem HKÜ die Rückführung des Kindes. Das Landesgericht Leoben wies diesen Antrag mit Beschluss vom 7. Jänner 2009 rechtskräftig ab. Mit einstweiliger Verfügung vom 25. August 2009 übertrug das Bezirksgericht Judenburg die Obsorge für das Kind vorläufig der Mutter. In weiterer Folge bestätigte es am 23. September 2009 die Rechtskraft und Vollstreckbarkeit dieses Beschlusses.
Bereits mit Beschluss vom 10. Juli 2009 hatte jedoch das Jugendgericht Venedig auf Antrag des Vaters die sofortige Rückführung des Kindes nach V***** (Italien) angeordnet. Sollte die Mutter mit dem Kind zurückkehren, sei es weiter bei ihr unterzubringen, sonst beim Vater. Der Sozialdienst der Gemeinde V***** wurde beauftragt, eine Wohneinrichtung für die Mutter und das Kind zur Verfügung zu stellen. Zu dieser Entscheidung stellte das Jugendgericht Venedig eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO aus.
Der Vater beantragt die Vollstreckung der Rückführungsanordnung des Jugendgerichts Venedig. Da dieses Gericht eine Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa VO ausgestellt habe, sei den Gerichten des Vollstreckungsstaats jede inhaltliche Prüfung verwehrt. Vielmehr sei die Rückgabeanordnung nach Art. 47 Brüssel IIa VO wie eine entsprechende österreichische Entscheidung zu vollstrecken.
Die Mutter hält dem entgegen,
– dass das Jugendgericht Venedig das ursprünglich verhängte Ausreiseverbot mit Beschluss vom 23. Mai 2008 aufgehoben habe, weswegen der Aufenthalt des Kindes in Österreich zumindest ab diesem Zeitpunkt nicht mehr widerrechtlich gewesen sei; dadurch sei die Zuständigkeit nach Art. 10 lit. b sublit iv Brüssel IIa-VO auf die österreichischen Gerichte übergegangen;
– dass die Rückgabeanordnung nicht unter Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO falle, weil das Jugendgericht Venedig nicht über die Obsorge entschieden und inhaltlich weder auf die Gründe der österreichischen Entscheidungen noch auf das Kindeswohl Bedacht genommen habe; dies sei auch bei der Vollstreckung zu berücksichtigen, weil das Kindeswohl auch dabei die oberste Maxime sei;
– dass das Bezirksgericht Judenburg der Mutter mit vollstreckbarer einstweiliger Verfügung die vorläufige Obsorge übertragen habe, was einer Vollstreckung der Rückgabeanordnung nach Art. 47 Abs. 2 Brüssel IIa-VO entgegenstehe;
– dass sich nach Erlassung der Rückgabeanordnung die Umstände derart geändert hätten, dass eine Vollstreckung zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt gegen das Kindeswohl verstieße; der Vater habe Mitte 2009 jeglichen Kontakt eingestellt, sodass eine weitere Entfremdung zwischen ihm und dem Kind eingetreten sei.
Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters ab. Da die Mutter nicht bereit sei, sich mit dem Kind nach Italien zu begeben, würde die Vollstreckung der italienischen Entscheidung zur Unterbringung beim Vater führen. Dies wäre – offenkundig wegen der inzwischen eingetretenen Entfremdung – mit einer schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens beim Kind verbunden. Daher sei die Rückführungsanordnung nicht zu vollstrecken.
Das Rekursgericht gab einem dagegen gerichteten Rekurs des Vaters Folge, bewilligte die Vollstreckung der Rückgabeanordnung und sprach aus, dass die näheren Vollzugsanordnungen dem Erstgericht oblägen. Da das Jugendgericht Venedig eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO ausgestellt habe, stehe es dem ersuchten Gericht lediglich zu, die Vollstreckbarkeit der ausländischen Entscheidung festzustellen und die sofortige Rückführung zu veranlassen. Auf einen Ordre-public-Verstoß könne sich die Mutter nach Art. 42 Brüssel IIa-VO nicht berufen; die Umstände hätten sich seit der Erlassung der Rückführungsanordnung nicht geändert. Die einstweilige Verfügung des Bezirksgerichts Judenburg stehe der Vollstreckung nicht entgegen. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mit der Begründung zu, dass Rechtsprechung zu Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO fehle.
Der gegen diese Entscheidung gerichtete, auch in Vertretung des Kindes erhobene Revisionsrekurs der Mutter ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
1. Der Vater hat den Vollstreckungsantrag beim Bezirksgericht Leoben gestellt, obwohl sich die Mutter und das Kind zu diesem Zeitpunkt im Sprengel des Bezirksgerichts Judenburg aufgehalten haben. Die aus diesem Grund von der Mutter behauptete örtliche Unzuständigkeit des Erstgerichts kann nach § 66 Abs. 1 AußStrG iVm §§ 56, 57 Abs. 1 und 58 AußStrG nicht mit Revisionsrekurs geltend gemacht werden.
Zur Klarstellung ist jedoch festzuhalten, dass an der örtlichen Zuständigkeit des Erstgerichts keine Bedenken bestehen. Grundlage ist eine Analogie zu § 5 Abs. 1 des BG zur Durchführung des HKÜ, BGBl 1988/513 idF BGBl I 2003/112. Nach dieser Bestimmung ist für die Entscheidung über Rückführungsanträge nach dem HKÜ das Bezirksgericht am Sitz des Gerichtshofs erster Instanz zuständig, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält. Diese Regelung hat nach den Gesetzesmaterialien (EB zur RV, 225 BlgNR 22. GP, zu Art XXIV AußStr-BegleitG) den Zweck, die – eher seltenen – Rückführungsverfahren bei wenigen Gerichten zu konzentrieren und so den dort zuständigen Richterinnen und Richtern zu ermöglichen, vertiefte Sachkenntnisse zu erwerben und praktische Erfahrungen zu sammeln. Dadurch soll eine rasche Abwicklung der Verfahren sichergestellt und das Anlegen von Maßstäben verhindert werden, „die auf Obsorgeverfahren passen, nicht aber auf die spezielle Problematik grenzüberschreitender Kindesentziehung“ (aaO).
Die Vollstreckung von Rückführungsanordnungen nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO steht in einem engen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Verfahren nach dem HKÜ. Mehr noch als in jenem Verfahren gelten hier, wie sich auch aus der im vorliegenden Verfahren eingeholten und für den Senat bindenden Vorabentscheidung des EuGH ergibt, besondere Maßstäbe, die mit dem in Obsorgeverfahren maßgebenden konkreten Kindeswohl nicht immer übereinstimmen werden. Die der Zuständigkeitsregel für HKÜ-Verfahren zugrundeliegende Wertung gilt daher umso mehr für die Vollstreckung von Rückführungsanordnungen nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO. Da dies vom Gesetzgeber offenbar übersehen wurde, ist eine analoge Anwendung von § 5 Abs. 1 des Durchführungsgesetzes zum HKÜ geboten.
2. In der Sache hatte der Senat Zweifel an der Auslegung mehrerer Bestimmungen der Brüssel IIa-VO. Er legte daher dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 20. April 2010 mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Der Gerichtshof hat darauf mit Urteil vom 1. Juli 2010, Rs C-211/10 PPU, wie folgt geantwortet:
1.Art. 10 Buchst b Ziff iv der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass eine vorläufige Regelung keine „Sorgerechtsentscheidung..., in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt und nicht zu einer Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats führen kann, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde.
2.Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass eine Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, auch dann in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, wenn ihr keine von diesem Gericht getroffene endgültige Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind vorausgegangen ist.
3.Art. 47 Abs. 2 Unterabs 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass eine später ergangene Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der ein vorläufiges Sorgerecht gewährt wird und die nach dem Recht dieses Staates als vollstreckbar anzusehen ist, der Vollstreckung einer zuvor ergangenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der das zuständige Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Rückgabe des Kindes anordnet, nicht entgegengehalten werden kann.
4.Die Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung kann im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht deshalb verweigert werden, weil sie aufgrund einer seit Erlassung der Entscheidung eingetretenen Änderung der Umstände das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden könnte. Eine solche Änderung muss vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats geltend gemacht werden, bei dem auch ein etwaiger Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung seiner Entscheidung zu stellen ist.
3. Nach dieser in jeder Hinsicht eindeutigen Entscheidung ist es unerheblich, dass das Jugendgericht Venedig das Aufenthaltsbestimmungsrecht zunächst der Mutter übertragen hatte (Punkt 1) und dass es in seinem Sorgerechtsverfahren noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat (Punkt 2). Eine österreichische Obsorgeentscheidung zugunsten der Mutter stünde der beantragten Vollstreckung selbst dann nicht entgegen, wenn sie in der Hauptsache erginge und rechtskräftig würde (Punkt 3). Die Befugnis der österreichischen Gerichte beschränkt sich darauf, die „Modalitäten“ der Rückführung festzulegen (EuGH Rn. 82). Eine Änderung der Verhältnisse kann die Mutter nur beim Jugendgericht Venedig geltend machen, wobei ausschließlich dieses Gericht einem solchen Antrag aufschiebende Wirkung zuerkennen könnte (Punkt 4). Damit hat der EuGH der vom Senat (auch) in diesem Zusammenhang erwogenen Analogie zu Art. 23 EuVTVO eine Absage erteilt. Diese Analogie hätte es den österreichischen Gerichten ermöglicht, die Vollstreckung bis zur Entscheidung des Jugendgerichts Venedig über Rechtsmittel der Mutter auszusetzen.
4. Auf dieser Grundlage muss der Revisionsrekurs der Mutter scheitern. Die Entscheidung des Jugendgerichts Venedig ist ohne weitere inhaltliche Prüfung zu vollziehen, die Aufgabe des Erstgerichts beschränkt sich darauf, die konkrete Vorgangsweise bei der Vollstreckung festzulegen. Dabei ist zu beachten, dass das Jugendgericht Venedig in erster Linie eine Unterbringung des Kindes bei der Mutter vorgesehen und zu diesem Zweck die Bereitstellung einer Wohneinrichtung durch den Sozialdienst der Gemeinde V***** angeordnet hat. Das Erstgericht wird daher zunächst dem Vater aufzutragen haben, in geeigneter Form nachzuweisen, dass diese Wohnversorgung tatsächlich zur Verfügung steht. Diesen Nachweis wird der Vater insbesondere durch eine Bestätigung des Jugendgerichts Venedig oder der Gemeinde V***** erbringen können. Danach wird das Erstgericht der Mutter aufzutragen haben, innerhalb einer bestimmten Frist, die zur Vermeidung weiterer Verzögerungen nicht länger als zwei Wochen dauern darf, mit dem Kind nach Italien zurückzukehren. Sollte die Mutter einwenden, dass die Wohnversorgung nicht ausreichend sei, hätte darüber ausschließlich das Jugendgericht Venedig zu entscheiden.
Nach ungenutztem Ablauf der Frist wäre über weiteren Antrag des Vaters anzuordnen, dass das Kind der Mutter abgenommen und ihm übergeben wird. Diesem Beschluss wäre nach § 44 AußStrG zur Vermeidung weiterer Verzögerungen vorläufige Vollstreckbarkeit zuzuerkennen. Gleichzeitig wäre jedoch festzuhalten, dass die Mutter diese einschneidende Maßnahme auch weiterhin dadurch abwenden kann, dass sie mit dem Kind nach Italien zurückkehrt.
Allfällige Anträge der Mutter beim Jugendgericht Venedig stünden diesen Maßnahmen nur dann entgegen, wenn ihnen von diesem Gericht in Bezug auf die Rückführung aufschiebende Wirkung zuerkannt würde. Außer im Fall der Aktenkundigkeit obläge es der Mutter, gegenüber dem österreichischen Gericht oder Vollstreckungsorgan das Bestehen einer solchen Anordnung nachzuweisen.