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Zusammenfassung der Entscheidung Der in Österreich wohnhafte Kläger war als Handelsvertreter für die Beklagte, ein italienisches Unternehmen tätig. Die Beklagte kündigte das Vertretungsverhältnis. Der Kläger machte Ansprüche auf Zahlung rückständiger Provisionen und von Handelsvertreterausgleich geltend. Er erhob Klage vor dem Landesgericht Linz (AT), wobei er sich auf eine von den Parteien im Handelsvertretervertrag vereinbarte Gerichtsstandsklausel berief. Die Beklagte hatte ihrerseits gegen den Kläger vor dem Tribunale Monza (IT) Klage auf Schadensersatz und auf die Feststellung erhoben, dass sie das Vertretungsverhältnis berechtigt gekündigt habe. Die italienische Klage war vor der Erhebung der österreichischen Klage rechtshängig geworden. Die Vorinstanzen haben die Klage des Klägers abgewiesen. Hiergegen hat dieser Revisionsrekurs zum OGH (AT) eingelegt.
Der OGH (AT) weist den Rekurs zurück und bestätigt die Entscheidung des Berufungsgerichts. Auf den Rechtsstreit gelange das LugÜ zur Anwendung. Gemäß Art. 21 LugÜ sei das zeitlich später angerufene österreichische Gericht verpflichtet, sein Verfahren auszusetzen bis die Zuständigkeit des mit der gleichen Sache zuerst befassten Gerichts feststeht. Der Gegenstand beider Klagen sei nach der Rechtsprechung des EuGH derselbe, da beide im Kernpunkt miteinander übereinstimmten. Der von dem Kläger beanspruchte Ausgleichsanspruch stehe diesem nämlich nur zu, wenn die Beklagte nicht berechtigt war, das Vertragsverhältnis aus einem von dem Kläger zu vertretenden wichtigen Grund zu kündigen. Dies sei aber gerade Gegenstand des von ihr im italienischen Verfahren gestellten Feststellungsantrags. Es komme nicht darauf an, ob die Parteien rechtswirksam die Zuständigkeit der österreichischen Gerichte vereinbart hätten. Durch Art. 17 LugÜ werde die Rechtshängigkeitsregel des Art. 21 LugÜ nicht verdrängt. Die Verpflichtung des später angerufenen Gerichts zur Aussetzung seines Verfahrens sei vielmehr vorrangig.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
Zwischen den Parteien wurde mit Handelsvertretervertrag vom 22. 12. 1993 bzw 26. 1. 1994 rückwirkend mit 1. 11. 1993 auf vorläufig unbestimmte Zeit ein Handelsvertreterverhältnis begründet. Gerichtsstand für etwaige Rechtsstreitigkeiten ist nach dem Vertrag der Sitz des Klägers. Die beklagte Partei erklärte unter Einhaltung der vereinbarten sechsmonatigen Kündigungsfrist die Auflösung des Handelsvertreterverhältnisses zum 31. 10. 1996.
Mit der am 4. 6. 1997 beim Erstgericht eingebrachten Klage begehrt der Kläger offene Provisionen für vermittelte Geschäfte in Höhe von LIT 7,326.408 sowie einen Ausgleichsanspruch nach § 24 HVertrG in Höhe von LIT 17,581.528 insgesamt somit die Zahlung von LIT 24,907.935 sA.
Die beklagte Partei wendete die internationale sowie die örtliche und sachliche Unzuständigkeit des angerufenen Gerichtes mit der Begründung ein, daß sie am 15. 1. 1997 beim Bezirksgericht Monza (Italien) eine Klage gegen den nunmehrigen Kläger eingebracht habe. Nach dem Urteilsantrag dieser Klage solle festgestellt werden, daß die Aufhebung des Handelsvertretervertrages mit dem Kläger aus triftigem Grund erfolgt sei, dem Kläger daher keine Entschädigung zustehe und der Kläger zu Schadenersatzleistungen an die beklagte Partei verpflichtet sei. Diese Klage sei dem Kläger am 20. 2. 1997 zugestellt worden. Mit der am 18. 6. 1997 eingebrachten Klagebeantwortung habe sich der Kläger in den Streit eingelassen und die Abweisung der Klage beantragt. Nach dem auf den gegenständlichen Rechtsstreit anzuwendenden Art. 21 des Übereinkommens von Lugano (LGVÜ) habe das zeitlich zuerst angerufene Gericht Vorrang und das später angerufene Gericht habe sich bei feststehender Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichtes für unzuständig zu erklären.
Der Kläger hielt dem entgegen, daß zwischen den Parteien eine Zuständigkeitsvereinbarung im Sinne des Art. 17 LGVÜ getroffen worden sei und daher das vereinbarte Gericht ausschließlich zuständig sei. Zwischen einer Leistungsklage und einer negativen Feststellungsklage bestehe nach ständiger Rechtsprechung keine Streitidentität.
Das Erstgericht wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Es vertrat die Auffassung, daß das beim Bezirksgericht Monza anhängige Verfahren „denselben Anspruch“ im Sinne des Art. 21 LGVÜ wie im vorliegenden Verfahren betreffe, weshalb die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Bezirksgerichtes Monza und die Unzuständigkeit des Erstgerichtes gegeben sei.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Klägers nicht Folge. Es teilte die Auffassung des Erstgerichtes, daß das LGVÜ unmittelbar anwendbar sei und das nationale Recht verdränge. Hinsichtlich der Frage, ob die Klagen „wegen desselben Anspruchs“ anhängig seien, stelle der EuGH auf den Gegenstand und die Grundlage des Anspruchs ab. Dieselbe Grundlage hätten unter anderem zwei Rechtsstreitigkeiten, welche auf demselben Vertragsverhältnis beruhten. Derselbe Gegenstand liege im gemeinsamen Zweck, im Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten und bestimme sich danach, welche Begehren im Mittelpunkt beider Verfahren stünden. Soweit der Kläger Ausgleichsansprüche gemäß § 24 HVertrG begehre, liege der für die Anwendbarkeit des Art. 21 LGVÜ notwendige gemeinsame Kernpunkt dieses Klagebegehrens sowie der Klage auf Feststellung der Vertragsauflösung aus wichtigem Grund und des daraus resultierenden Schadenersatzanspruches vor dem Bezirksgericht Monza im Auflösungsgrund des Handelsvertretervertrages. Dieses Auslegungsergebnis nehme auch darauf Bedacht, daß Art. 21 LGVÜ den Zweck verfolge, nach Möglichkeit eine Nichtanerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien im Anerkennungsstaat ergangen ist, zu verhindern. Das Erstgericht habe daher das Klagebegehren im Umfang der vom Kläger geltend gemachten Ausgleichsansprüche zutreffend mangels Vorliegens der inländischen Gerichtsbarkeit zurückgewiesen. Hinsichtlich des vom Kläger weiters geltend gemachten Provisionsanspruches sei im Hinblick auf die Höhe dieses Begehrens (umgerechnet ca 52.000 S) die sachliche Zuständigkeit des Erstgerichtes nicht gegeben, weshalb die Klage auch in diesem Umfang vom Erstgericht zu Recht zurückgewiesen worden sei. Der Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zur Frage der Auslegung des Art. 21 LGVÜ eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fehle.
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig; er ist aber nicht berechtigt.
Es ist zwischen den Parteien nicht strittig, daß das Übereinkommen von Lugano (LGVÜ) auf die am 4. 6. 1997 beim Erstgericht eingelangte Klage anzuwenden ist. Das Übereinkommen geht dem nationalen Recht vor. Es ist für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit ausschließlich maßgebend. Gemäß Protokoll Nr. 2 über die einheitliche Auslegung des Lugano-Übereinkommens sind einerseits sämtliche bis 16. 9. 1988 zu den gleichlautenden Bestimmungen des EuGVÜ ergangenen Entscheidungen des EuGH als authentische Interpretation anzusehen und ist anderseits die maßgebliche Rechtsprechung sowohl der Gerichte aus den Staaten der EG als auch denen der EFTA gebührend zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist bei Auslegung des LGVÜ den Grundsätzen gebührend Rechnung zu tragen, die sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu den parallelen Bestimmungen des EuGVÜ ergeben, wobei insgesamt die für die Auslegung des EuGVÜ geltenden methodischen Grundsätze auch für die Auslegung des LGVÜ herangezogen werden können (Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht6 Einl Rn. 59 ff; SZ 70/162; 1 Ob 319/97m).
Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht gemäß Art. 21 LGVÜ das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.
Strittig ist im vorliegenden Fall nur, ob die beim Bezirksgericht Monza anhängige Klage „denselben Anspruch“ im Sinn des Art. 21 LGVÜ wie die gegenständliche Klage betrifft. Nach der Rechtsprechung des EuGH zur gleichlautenden Bestimmung des Art. 21 EuGVÜ ist der Begriff „derselbe Anspruch“ nicht nach dem jeweiligen nationalen Prozeßrecht, sondern vertragsautonom auszulegen. Zweck des Art. 21 ist es, mehrere Verfahren hinsichtlich desselben Anspruchs vor den Gerichten verschiedener Vertragsstaaten und demgemäß die Gefahr miteinander unvereinbarer und somit gemäß Art. 27 Nr. 3 nicht anerkennungsfähiger Urteile zu vermeiden. Der EuGH postuliert daher einen weiten Verfahrensgegenstandsbegriff. Auch wenn die deutsche Fassung des Art. 21 nicht ausdrücklich zwischen den Begriffen „Gegenstand“ und „Grundlage“ des Anspruchs unterscheidet, so ist sie doch im gleichen Sinn zu verstehen wie die Fassungen in den anderen Sprachen, die alle diese Unterscheidung treffen. Identität der Streitgegenstände ist somit gegeben, wenn beide Klagen dieselbe Grundlage und denselben Gegenstand betreffen. Die „Grundlage“ des Anspruchs umfaßt den Sachverhalt und die Rechtsvorschriften, auf die die Klage gestützt wird. Dieselbe Grundlage haben unter anderem zwei auf demselben Vertragsverhältnis beruhende Rechtsstreitigkeiten. Derselbe Gegenstand liegt im gemeinsamen Zweck, im Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten und bestimmt sich danach, welche Begehren im Mittelpunkt beider Verfahren stehen (vgl EuGH 8. 12. 1997, RsC-144/86, Gubisch Maschinenfabrik/Palumbo; EuGH 6. 12. 1994, RsC-406/92, The Tatry/The Maciej Rataj).
Entsprechend dieser Auslegung sah der EuGH in seiner Entscheidung vom 8. 12. 1987, RsC-144/86, von Art. 21 den konkreten Fall erfaßt, daß eine Partei vor dem Gericht eines Vertragsstaates die Feststellung der Unwirksamkeit oder die Auflösung eines internationalen Kaufvertrags begehrte, während die andere Partei vor dem Gericht eines anderen Vertragsstaates auf Erfüllung desselben Vertrages klagte. Ferner ist der gleiche Gegenstand betroffen, wenn vor dem Gericht eines Vertragsstaates die Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertrages und vor dem Gericht eines anderen Vertragsstaates die Rückgewähr einer aufgrund dieses Vertrages erbrachten Leistung begehrt wird, weil Kernpunkt der Streitigkeit jeweils die Unwirksamkeit des Vertrages ist (EuGH 6. 12. 1994, RsC-406/92). Konsequenz dieser Rechtsprechung des EuGH ist, daß es auf die Art der Klagen und die Reihenfolge ihrer Geltendmachung nicht ankommt. Vielmehr bildet nur das Vorliegen desselben Anspruchs – daher desselben Gegenstandes und derselben Grundlage – das Kriterium, ob Streitanhängigkeit durch eine bereits früher erhobene Feststellungsklage gegenüber der später erhobenen Leistungsklage und umgekehrt gegeben ist. Es hat daher nicht nur die früher erhobene Leistungsklage Vorrang vor einer späteren Feststellungsklage, sondern auch umgekehrt die frühere (negative) Feststellungsklage vor der späteren Leistungsklage (vgl Kropholler aaO Rn. 7 f; Geimer-Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht Rn. 29 ff zu Art. 21; Gaedke, Konkurrenz inländischer und ausländischer Verfahren – Tatbestand und Rechtsfolgen der internationalen Streitanhängigkeit nach dem LGVÜ, ÖJZ 1997, 286 ff [289] jeweils mwN ua). Von diesem Grundsatz besteht auch keine Ausnahme, wenn das Zweitgericht aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung gemäß Art. 17 ausschließlich zuständig ist. Das prorogierte Zweitgericht muß auch in diesem Fall das vor ihm anhängige Verfahren gemäß Art. 21 aussetzen bzw sich für unzuständig erklären, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Art. 17 verdrängt den Art. 21 nicht (vgl Kropholler aaO Rn. 18 zu Art. 21 mwN).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat bereits das Rekursgericht zutreffend darauf hingewiesen, daß im Umfang des vom Kläger geltend gemachten Ausgleichsanspruches nach § 24 HVertrG eine Identität der Streitgegenstände in den beiden Verfahren vorliegt. Der vom Kläger im gegenständlichen Verfahren begehrte Ausgleichsanspruch besteht nämlich gemäß § 24 Abs. 3 Z 2 HVertrG nicht, wenn die beklagte Partei das Vertragsverhältnis wegen eines schuldhaften, einen wichtigen Grund nach § 22 darstellenden Verhaltens des Handelsvertreters gekündigt oder vorzeitig aufgelöst hat. Diese Frage bildet jedoch bereits den Gegenstand des vor dem Bezirksgericht Monza anhängigen Verfahrens. Damit bestünde die Gefahr, daß in dieser Frage in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen könnten. Dies soll aber nach der Rechtsprechung des EuGH durch Art. 21 EuGVÜ (= LGVÜ) verhindert werden. Die von der klagenden Partei in ihrem Revisionsrekurs angesprochene Gefahr des Mißbrauchs durch rasche Erhebung einer negativen Feststellungsklage vor Rechtshängigkeit einer Leistungsklage ist durch die Erfordernisse der innerstaatlichen Verfahrensrechte beschränkt (vgl Czernich/Tiefenthaler, Die Übereinkommen von Lugano und Brüssel Rn. 11 zu Art. 21). Entgegen der Ansicht des Klägers kommt auch, wie bereits erwähnt, einer Zuständigkeitsvereinbarung im Sinn des Art. 17 LGVÜ kein Vorrang gegenüber der Regelung des Art. 21 LGVÜ zu. Die Richtigkeit der Rechtsansicht des Rekursgerichtes, daß hinsichtlich der vom Kläger weiters geltend gemachten Provisionsansprüche im Hinblick auf die Höhe ihres Streitwertes die sachliche Zuständigkeit des Erstgerichtes nicht gegeben sei, wird im Revisionsrekurs ausdrücklich nicht in Zweifel gezogen. Da die Möglichkeit einer Überweisung des Rechtsstreits an das zuerst angerufene Gericht nicht besteht (vgl Kropholler aaO Rn. 9 zu Art. 22), erfolgte die Zurückweisung der Klage zu Recht. Das Rechtsmittel muß deshalb erfolglos bleiben.