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Zusammenfassung der Entscheidung Die Parteien haben 1981 in Tschechien die Ehe geschlossen. Am 16.05.2001 begehrte der Mann die Scheidung der Ehe in Tschechien wegen tiefer und dauernder Zerrüttung. Mit Urteil vom 20.09.2004 wurde die Ehe in Tschechien geschieden. Schon zuvor am 22.09.2003 hatte die Frau in Österreich eine Klage auf Scheidung der Ehe wegen Verschuldens des Mannes eingebracht. Der Mann erhob die Einrede der internationalen Streitanhängigkeit, weil beide Verfahren denselben Streitgegenstand hätten. Im Übrigen sei die Verordnung 1347/2000 „Brüssel II“ anzuwenden, weil die Klagen nach ihrem Inkrafttreten am 1.03.2001 anhängig geworden seien. Das Erstgericht wies die Einrede ab. Das Rechtsmittelgericht bestätigte diese Entscheidung.
Der OGH (AT) gibt dem Revisionsrekurs keine Folge und führt u.a aus, dass die Entscheidung davon abhänge, ob Art. 11 der Verordnung 1347/2000 „Brüssel II“ über die (internationale) Rechtshängigkeit anzuwenden sei. Die Verordnung sei am 1.03.2001 in Kraft getreten (Art. 46 Abs. 2). Sie gelte nur für Verfahren, die nach ihrem Inkrafttreten eingeleitet worden seien (Art. 42 Abs. 1). Diese Voraussetzung sei an sich für beide Verfahren zu bejahen, jedoch müsse geprüft werden, wann die Verordnung in Tschechien in Kraft getreten sei. Tschechien sei aufgrund des diesbezüglichen Beitrittsvertrags mit 1.05.2004 der Europäischen Union beigetreten. Mit diesem Datum sei auch die Verordnung in Tschechien in Kraft getreten. Art. 42 der Verordnung sei – ebenso wie Art. 54 Abs. 1 EuGVÜ und Art. 66 Abs. 1 EuGVO – ein Rückwirkungsverbot zu entnehmen. Die Verordnung 1347/2000 „Brüssel II“ dürfe daher nur auf „Neuverfahren“ angewendet werden, also auf Verfahren, die nach ihrem Inkrafttreten im jeweiligen Staat eingeleitet worden sind. Da das Verfahren in Tschechien mit der Einbringung der Klage am 16.05.2001 – und damit vor dem Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union – eingeleitet worden sei, sei die Anwendung der Verordnung ausgeschlossen.
JURE Zusammenfassung, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission
Die Parteien schlossen am 15. August 1981 in T*****, Tschechien, die Ehe. Am 16. Mai 2001 begehrte der Mann beim Bezirksgericht F*****, Tschechien, zu GZ 13 C 103/2001 die Scheidung dieser Ehe wegen deren tiefer und dauernder Zerrüttung. Mit Urteil vom 20. September 2004 wurde die Ehe geschieden.
Die Frau begehrt die Scheidung dieser Ehe mit der seit 22. September 2003 gerichtsanhängigen Klage wegen des Verschuldens des Mannes. Das Verfahren in Tschechien stehe dem nicht entgegen, weil Art. 11 Abs. 2 und 3 EuEheVO nicht anzuwenden sei. Tschechien sei kein Mitgliedstaat der Europäischen Union (gewesen). Die EuEheVO sei auf vor dem Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 eingeleitete Ehescheidungsverfahren nicht anzuwenden. Der Mann erhob die Einrede der internationalen Streitanhängigkeit. Beide Verfahren hätten denselben Streitgegenstand, nämlich die Auflösung der zwischen den Parteien geschlossenen Ehe. Damit sei Streitanhängigkeit im Sinne der §§ 232, 233 ZPO gegeben. Im Übrigen sei die EuEheVO anzuwenden, weil die Klagen nach ihrem Inkrafttreten am 1. März 2001 anhängig geworden seien.
Das Erstgericht wies die Einrede ab. Streitanhängigkeit im Sinne der §§ 232, 233 ZPO sei nicht gegeben, weil zwar beide Klagen auf Auflösung der Ehe der Parteien gestützt seien, jene der Frau aber auf Verschulden und jene des Mannes auf Zerrüttung gerichtet sei. Damit liege keine Identität der geltend gemachten Ansprüche vor. Die EuEheVO sei nicht anwendbar, weil sie gegenüber Tschechien erst mit dessen Beitritt zur Europäischen Union in Kraft getreten und auf vor ihrem Inkrafttreten eingeleitete Verfahren nicht anwendbar sei. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage des Inkrafttretens von Verordnungen der Europäischen Union im Falle eines Beitritts neuer Mitgliedstaaten fehle. Die Anwendung der EuEheVO auf vor dem Beitritt Tschechiens anhängig gewordene Verfahren verstieße gegen das Rückwirkungsverbot von Gesetzen, welches auch für Verordnungen der Europäischen Union zu gelten habe.
Der Revisionsrekurs des Mannes ist aus den vom Rekursgericht angeführten Gründen zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt. Nach Art. 11 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1347 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die Gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl L 160 vom 30. Juni 2000 S 19, geändert ABl L 173 vom 3. Juli 2002 S 3) – EuEheVO setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigkeiterklärung einer Ehe, die nicht denselben Anspruch betreffen, zwischen denselben Parteien gestellt werden. Nach Abs. 3 erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig, sobald die Zuständigkeit dieses Gerichts feststeht.
Da unbestrittenermaßen beide Klagen auf Scheidung der zwischen den Parteien geschlossenen Ehe gerichtet sind und die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts in Tschechien feststeht, hängt die Frage der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte davon ab, ob Art. 11 EuEheVO anzuwenden ist; in diesem Fall wäre die Klage zurückzuweisen.
Die EuEheVO ist am 1. März 2001 in Kraft getreten (Art. 46 Abs. 2). Sie gilt nur für Verfahren, die nach ihrem Inkrafttreten eingeleitet worden sind (Art. 42 Abs. 1). Diese Voraussetzung wäre für beide Verfahren zu bejahen (16. Mai 2001 bzw 22. September 2003); zu prüfen ist aber, wann die EuEheVO in Tschechien in Kraft getreten ist. Tschechien trat auf Grund der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (Beitrittsvertrag 2004) mit 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei. Nach Art. 2 dieses Vertrags sind ab dem Tag des Beitritts die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte. Art. 1 bestimmt, dass „Organe“ die durch die ursprünglichen Verträge geschaffenen Organe und die „ursprünglichen Verträge“ der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft („EG-Vertrag“), der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft („Euratom-Vertrag“) mit den Änderungen oder Ergänzungen, die durch vor diesem Beitritt in Kraft getretene Verträge oder andere Rechtsakte vorgenommen worden sind, sowie der Vertrag über die Europäische Union („EU-Vertrag“) mit den Änderungen oder Ergänzungen, die durch vor diesem Beitritt in Kraft getretene Verträge oder andere Rechtsakte vorgenommen worden sind, sind. Da es sich bei der EuEheVO zweifellos um einen „Rechtsakt der Organe der ursprünglichen Verträge“ handelt und sie darüber hinaus ausdrücklich in Anhang II (Liste nach Art. 20 der Beitrittsakte) Ziffer 2 erwähnt ist, ist sie in Tschechien seit 1. Mai 2004 verbindlich. Sie ist mit diesem Datum in Kraft getreten. Art. 42 EuEheVO ist – ebenso wie Art. 54 Abs. 1 EuGVÜ und Art. 66 Abs. 1 EuGVVO (Neumayr in Burgstaller/Neumayr [2001], Internationales Zivilverfahrensrecht Art. 42 EuEheVO Rn. 1) – ein Rückwirkungsverbot zu entnehmen (vgl 8 ObA 154/98z = SZ 71/207; RIS-Justiz RS0111261; Mayr, Ab wann ist das Luganer Übereinkommen anzuwenden? WBl 1996, 381; Czernich/Tiefenthaler, Die Übereinkommen von Lugano und Brüssel [1999] 265; Klauser, EuGVÜ und EVÜ, ecolex-Spezial [1999], 178; Schoibl, Zum zeitlichen Anwendungsbereich und zum Ratifikationsstand des Brüsseler Übereinkommens, ÖJZ 2000, 481 [482] mwN; Neumayr aaO Art. 66 EuGVVO Rn. 1). Die EuEheVO ist damit nur auf „Neuverfahren“ anzuwenden (Schoibl aaO mwN), also auf Verfahren, die eingeleitet worden sind, nachdem die Verordnung in Kraft getreten ist (Neumayr aaO Art. 42 EuEheVO Rn. 1). Maßgeblich für die Bestimmung des Zeitpunkts der Verfahrenseinleitung ist das Recht des Ursprungsstaats (Czernich/Tiefenthaler aaO 266 mwN; Neumayr aaO Art. 42 EuEheVO Rn. 1 mwN).
Das Verfahren in Tschechien wurde mit der Einbringung der Klage am 16. Mai 2001 und damit vor dem Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union eingeleitet. Das schließt – wie die Vorinstanzen richtig erkannt haben – eine Anwendung der EuEheVO und damit eine Berücksichtigung des tschechischen Verfahrens aus.
Der Revisionsrekurs musste erfolglos bleiben.